Ein ausgesprochen moderner Künstler

Ein Sammelband richtet neue Blicke auf das Spätwerk des großen norwegischen Malers Eduard Munch

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er hatte in Asgardstrand, einem kleinen Fischerdorf an einem Fjord außerhalb von Oslo, ein Sommeratelier. Diese trostlose Gegend machte er zu einer der symbolhaften Landschaften des modernen Geistes und zum Sinnbild für Entfremdung, Verlorenheit und Sehnsucht. Die Personen, die in einem schrankenlos ichbezogenen Trancezustand auf das Meer hinausblicken, sind vielleicht die letzten Nachfahren der melancholischen Rückenfiguren in der romantischen Malerei. Aber die Landschaft ist keineswegs der Ort der Handlung für die Gestalten, sondern der Hintergrund jenes bedrückenden Seelenzustandes, den er in seiner Kunst entäußerte. „Ohne Angst und Krankheit wäre ich wie ein Schiff ohne Ruder gewesen“, kann man in seinen Tagebüchern lesen. Edvard Munch war eine Verkörperung des Expressionismus, noch bevor dieser einen Namen hatte. Sein Ich galt ihm als der einzige sichere Hort in einer sonst feindlichen Welt, und doch handeln einige seiner bewegendsten Bilder von dem pessimistisch zarten Versuch, die Kluft zwischen dem Ich und dem anderen zu schließen. Fast alle seine Gemälde und Blätter kann man in den Ablauf eines ganzen Menschenlebens zyklisch gruppieren.

Seine vor und nach der Jahrhundertwende entstandenen Werke werden gerühmt, aber seinen späteren Werken hat man bisher weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Doch reichte sein Arbeitsleben bis in die 1940er-Jahre, er ist viel in Europa gereist, hat aufmerksam die Tendenzen avantgardistischer Kunst zur Kenntnis genommen, sich der Fotografie, dem Film und Theater gewidmet und die Anregungen der neuen Medien in sein sich wieder entschlossener der Wirklichkeit zugewandten Spätwerk aufgenommen.

Und darum geht es der jetzt bis zum 13. Mai in der Schirn Kunsthalle Frankfurt gezeigten Ausstellung: Der Blickwinkel auf Munch soll erweitert werden. Ja, anstatt sich den jeweils neuesten Stilrichtungen anzuschließen, ist Munch sich selbst treu geblieben, hat ein kraftvolles Spätwerk entwickelt und Selbstdarstellungen geschaffen, die ihresgleichen in der Kunstgeschichte suchen. Und doch hat er sich auch mit modernen Aufnahmetechniken und zeitgenössischen Bühnenbildern auseinandergesetzt. Wie hat er die ästhetischen Möglichkeiten der Fotografie für sich verwertet und welchen Einfluss haben die visuellen Medien und das moderne Theater auf ihn? In welchem Maße hat er spezifisch fotografische oder filmische Bau- und Erzählformen, selbst Effekte, in sein Spätwerk übernommen? Munch ist nicht nur symbolistischer und präexpressionistischer Maler des 19. Jahrhunderts, der der Kunst eines Vincent van Gogh und Paul Gauguin zuzuordnen ist – so das Konzept von Ausstellung und Katalog –, sondern er hat auch die Kunst des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt, sein Todesjahr 1944 war auch das von Wassily Kandinsky und Piet Mondrian. Sein Werk umspannt also zwei Jahrhunderte, wenn man so will.

Der von Angela Lampe und Clément Chéroux anlässlich der ersten Ausstellungsetappe im Centre Pompidou Paris herausgegebene Katalog ist ein wissenschaftliches Kompendium erster Güte und umfasst mehr als 20 Beiträge, die neue Blicke auf das Spätwerk des norwegischen Künstlers richten. In zehn Kapiteln (Wiederholungen der Bildthemen und -motive, Autobiografie, Der optische Raum, Auf der Bühne, Obsession, Strahlungen, Der Cineast Munch, Die Außenwelt, Zeichnung und Fotografie, Der umgedrehte Blick) erfolgt die Neubetrachtung vor allem des Spätwerkes dieses uns so bekannten unbekannten Künstlers. Immer wieder hat Munch bestimmte Motive und Bildthemen aufgegriffen, und so liegen sie in gemalter, gezeichneter und lithografierter Version vor: Vom „Kranken Kind“, Munchs zentralem Gemälde der frühen Jahre, entstanden allein sechs Gemälde – „bis zum letzten Schmerzensschrei“ habe er sein Motiv durchlebt, wird Munch später bekennen –, von den „Mädchen auf der Brücke“ sieben und fünf von deren Abwandlung „Frauen auf der Brücke“, vom „Vampir“ entstanden acht Gemälde und das sich umarmende Paar „Der Kuss“ gibt es in zehn Varianten. „Der Kuss“: In der verzweifelten Umarmung des Paares wird schon die später umso heftiger aufbrechende Kluft spürbar. Beider Sehnsucht ist unendlich, aber sie fallen in die gleiche Einsamkeit zurück, die jetzt nur noch aussichtsloser erscheint. Dieselben Spannungen, die Henrik Ibsens und August Strindbergs Dramen so beklemmend machen, kann man auch bei Munch spüren, nur noch intensiver. Denn die unmittelbarste Quelle seiner Inspiration war die eigene Erfahrung.

Und doch stimmt das so nicht unbedingt. Das kranke rothaarige Mädchen („Das kranke Kind“), das er dann mehrfach wiederholte, ist nicht Munchs Schwester, wie man bisher annahm, deren qualvolles Sterben der damals Dreizehnjährige miterleben musste, sondern ein fremdes Mädchen. Also nicht so sehr die Erinnerungsarbeit spielt hier eine Rolle, sondern die Weiterentwicklung und Veränderung des Motivs über die Jahre hinweg. Nach Belieben setzt der Künstler sie in einen neuen Zusammenhang, so vermag Angela Lampe, Kustodin der Sammlung Kunst der Moderne am Centre Pompidou, zu zeigen. Sie werden zu Versatzstücken, erhalten, wie der „Kuss“ oder der „Vampir“, ein anderes Bühnenbild, doch der Titel des „Theaterstücks“ bleibt erhalten. Munch hat mit älteren Bildmotiven oder auch Bildhintergründen Stücke von Ibsen illustriert und er hat den Bildaufbau und den oft bühnenartigen Bildraum seiner späteren Gemälde mit größtmöglicher Dramatik aufgeladen. Sein Interesse für das zeitgenössische Theater und seine Erfahrungen mit Bühnenbildentwürfen für Max Reinhardts Deutsches Theater in Berlin kamen ihm dabei zu Hilfe. In seinen Bildexperimenten verlässt er die Sicht aus einer einheitlichen Perspektive und verbindet Aufsichten mit Untersichten. Die dadurch entstehende Diskontinuität hat immer auch eine inhaltliche Dimension.

Munchs Zusammenarbeit mit Max Reinhardt und den Berliner Kammerspielen in den  Jahren 1906/07, so weiß Angela Lampe zu berichten, ist also nicht ohne Folgen geblieben. Nachdem er die Wirkung der Kammerspielbühne erlebt hatte, begann er sich mit dem Bildthema der Figur im Innenraum intensiver auseinanderzusetzen. 1907 entstand im Ostseebad Warnemünde die Gruppe von Bildern, die Munch unter dem Sammelnamen „Das grüne Zimmer“ zusammenfasste. Zum ersten Mal taucht in einem Gemälde wie in den „Gespenster“-Dekorationen ein Kastenraum mit einer Zimmerdecke und Seitenwänden – also die Form einer Kammerbühne – auf. Die Figuren werden nicht nur begrenzt, sondern nahezu eingezwängt. Zwei riesige Köpfe füllen auf dem Gemälde „Hass“ in extremer Nahsicht fast das ganze Bildfeld aus. In „Eifersucht“ überträgt der intensive Blick aus dem wie losgelöst wirkenden Gesicht die Beklemmungen des Eifersüchtigen auf den Betrachter. Auf den Gemälden „Mord“ und „Begierde“ setzt sich der Bildraum durch den ins Blickfeld des Zuschauers hineinragenden Tisch im realen Raum fort. Es ist, als ob der Zuschauer die Szenen am Tisch sitzend betrachtet. Besonders in „Begierde“ verstärkt der wuchtige Tisch zusammen mit dem langen und leeren Sofa die Einsamkeit dieses eingeschüchterten Paares, das mächtigen äußeren Zwängen ausgeliefert zu sein scheint. Von Möbeln umzingelt, kann „Die Mörderin“ nicht mehr entkommen. Sowohl in der „Weinenden Frau“ als auch in „Frau und Mann“ setzt Munch isolierte Figuren in abweisender Haltung frontal in einen niedrigen Bildraum – ihre Nähe wirkt wie eine Inszenierung. Die starken visuellen Eindrücke, die Munch bei Reinhardt gewonnen hatte, haben den Bildraum des Norwegers in Bewegung gesetzt. Er wird gleichsam zum Bühnenraum. Die Kulissen verwandeln sich im Zusammenspiel mit den Requisiten zu dramatischen Akteuren. Wie bei den Szenenbildern zu den „Gespenstern“ luden Reinhardt und Munch die realistischen Vorgaben zunehmend mit psychischen und seelischen Inhalten auf – bis die Bühne zu einem modernen Ausdrucksraum wurde.

Oft beruhen Munchs Kompositionen – so Clément Chéroux, Kustos der fotografischen Sammlung im Centre Pompidou – auf ein oder zwei diagonalen Feldlinien, die die perspektivische Wirkung verstärken. Auf einer räumlichen Erstreckung von nah zu fern, auf vorspringenden, oft vom Rahmen beschnittenen Vordergründen sowie auf einer nach vorne strebenden Bewegung der Figuren. Diese Art zu malen steht einerseits in der Tradition des 19. Jahrhunderts (des Impressionismus, des Japonismus, der Verwendung der Camera obscura oder der Fotografie), entspricht aber andererseits auch typischen Sehweisen des 20. Jahrhunderts, wie sie durch die illustrierte Presse und das Kino begründet wurden mit ihren Bildern von Menschenmassen in Bewegung, von Personen oder Pferden, die direkt auf die Kamera zukommen. Dass Munch so häufig auf diese spektakuläre, dynamische Kompositionsweise zurückgriff, diente immer wieder demselben Ziel – die Beziehung zwischen Werk und Betrachter maximal zu intensivieren.

So erscheint Munchs Gesamtwerk als „komplex verwobenes Netzwerk von Selbstzitaten“, schreibt Angela Lampe im Katalog. War sich Munch schon des ikonischen Wertes seiner Motive bewusst, hat er sie als eine Art Markenzeichen eingesetzt: „Der Schrei“ für die Angst, „Madonna“ für Ekstase und das „Selbstporträt mit dem Skelettarm“ für den Tod?

Wie in der Malerei hat Munch auch in der Fotografie sein Leben in Bildern festgehalten. Er fotografierte sich auch inmitten seiner Gemälde, so dass es mitunter scheint, als posiere der Maler zusammen mit ihnen für ein Gruppenporträt. Mittels der Fotografie stellt er einen spielerischen Dialog mit seinen eigenen Werken her. Parallel zu den Selbstporträts oder den Selbstinszenierungen mit Gemälden fotografierte der Künstler seine Arbeiten auch immer wieder allein, als seien es geliebte Menschen. Es handelt sich bei diesen Aufnahmen um Porträts von Gemälden. Seine topografischen Aufnahmen wiederum betreffen Örtlichkeiten, die in seiner Erinnerung eine wichtige Rolle spielen. So nahm er 1904 den Strand von Asgardstrand auf, wo sich die stürmischen Episoden seines Liebeslebens abgespielt haben. Diesen Schauplatz wählte er auch als Hintergrundkulisse für einige der wichtigsten Motive seiner Malerei der 1890er-Jahre, die im Zusammenhang mit dem für den Lübecker Kunstsammler Max Linde bestimmten Fries entstanden. Munchs fotografische Produktion spiegelt – ähnlich wie die des schwedischen Dramatikers Strindberg – eine Obsession für das Selbstporträt wider, den Willen, den eigenen Lebensweg in Bildern festzuhalten. Für Munch muss also der Akt des Fotografierens etwas mit einer persönlichen Innenschau zu tun gehabt haben.

Hatte Munch im 19. Jahrhundert lediglich fünf Selbstbildnisse geschaffen, so stieg ihre Zahl von 1900 bis 1944 auf mehr als 40 – zahlreiche Zeichnungen, Radierungen und Fotografien nicht mitgerechnet. Er richtete den Blick nach innen. Besonders gut lässt sich dies in einer Reihe von Gemälden und Zeichnungen erkennen, die 1930 entstanden, als sein Sehvermögen wegen eines geplatzten Blutgefäßes im rechten Auge beeinträchtigt war. Indem er das, was er damals mit dem kranken Auge wahrnahm, zeichnete und malte, stellte er seinen Blick, das Sehen an sich oder „das Innere des Blicks“ dar. Auch darin zeigte sich Munchs außergewöhnliche Modernität, er verkörperte den modernen Blick. Seine Krankheit machte der Künstler zum Thema zweier expressiver Gemälde. Das eine nimmt Bezug auf die Figur im „Schrei“, Munchs Meisterwerk aus dem Jahre 1893. Diese bildliche Darstellung der existenziellen Angst des modernen Menschen assoziierte Munch in der intensiven Auseinandersetzung mit seiner Augenerkrankung mit der gestörten Wahrnehmung von Farben und Klängen.

In Munchs Auseinandersetzungen mit der eigenen Person offenbaren sich die als grundsätzlich empfundene Entfremdung und existenzielle Einsamkeit des modernen Menschen. Munch ist der erste Maler, der seine seelische Verfassung bildlich derart umfassend analysiert und in vielfältigen Nuancen ausgelotet hat. Ab dem zweiten Jahrzehnt nimmt die Auseinandersetzung mit sich selbst zahlenmäßig zu. Themen wie Krankheit, Einsamkeit, Älterwerden und Tod treten nun in den Vordergrund.

1907, als Munch die Serie „Das grüne Zimmer“ malte, arbeitete er auch am Motiv einer Frau, die in Tränen aufgelöst nackt vor einem Bett steht. Innerhalb kurzer Zeit fertigte er sechs Gemälde, mehrere Zeichnungen, eine Fotografie, eine Lithografie und eine Skulptur (er wollte diese sogar auf sein Grab setzen) davon an. Was war der Anlass für diese Besessenheit von diesem Sujet, fragt Arne Eggum, ehemaliger Direktor des Munch-museet, Oslo, in seinem Beitrag: hatte er eine Urszene im Auge, eine erotische Erinnerung oder einen Archetyp der Wehklage, für den er durch Wiederholung nach dem einfachsten Ausdruck suchte, wie er das beim „Schrei“, bei „Melancholie“ und dem „Kuss“ getan hatte?

Munchs Gemälde bezeugen eine besondere Faszination für Strahlen. Dem Metabolismus (den biochemischen Vorgängen im menschlichen Organismus) der „neuen Strahlen“ widmet sich Pascal Rousseau, Professor für Kunstgeschichte an der Université Paris I Panthéon-Sorbonne. Munch spielte mit Transparenzeffekten, wie sie für Röntgenstrahlen charakteristisch sind, als könne er durch lichtundurchlässige Körper hindurch sehen, und malte irisierende Sonnenstrahlen im Gegenlicht oder das farbige Flimmern der Schatten. Sein Strich schien sich der Frequenz der Lichtwellen anpassen zu wollen, er begann zu schwingen, wurde schwächer, näherte sich zuweilen der Abstraktion.

Die Begegnung mit dem Kubismus und dem Futurismus, aber auch die Entwicklung auf dem Gebiet der Fotografie, der illustrierten Presse und des Kinos genau beobachtend, veranlasste ihn dazu, mit Perspektive, Blickwinkel und Transparenzeffekten zu experimentieren. So sind die drei schreitenden Figuren des Gemäldes „Arbeiter auf dem Heinweg“ von 1913/14 von ganz unterschiedlichem Standpunkt aus dargestellt. Munch spielte zunehmend mit der Transparenz des Körpers. Der Betrachter nimmt die Szenerie einer vorwärts schreitenden Menschenmasse nicht mehr aus der Distanz wahr, sondern wird selbst zu einem Teil der Bewegung. Die Figuren, die in den 1880er- und 1890er-Jahren noch reglos, erstarrt oder versunken waren, werden später immer in Bewegung dargestellt, sie gehen auf den Betrachter zu und blicken ihm gelegentlich sogar direkt ins Gesicht. Der Künstler wollte den Betrachter ins Zentrum des Gemäldes setzen, ihn nicht mehr, wie er das früher getan hatte, ins Gemälde suggestiv hineinziehen, sondern – so Clément Chéroux – durch optische Verzerrungen eine gegenläufige Bewegung erzeugen, in der das Werk selbst sich auf den Betrachter projiziert. Mit der Option für ein Kompositionsprinzip, das eher zentrifugal als zentripetal ausgeführt ist, wird Munch zu einem ausgesprochen modernen Künstler. Er war wohl der erste moderne Maler, der die Vorstellung, dass Persönlichkeit durch Konflikte entsteht, in eine konsequente Bildsprache übersetzte.

Titelbild

Schirn Kunsthalle Frankfurt (Hg.): Edvard Munch - der moderne Blick.
Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2012.
320 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783775732826

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