Literaturwissenschaftliches ‚Erzählen‘

Über Rüdiger Görners Studie „Sprachrausch und Sprachverlust. Essays zur österreichischen Literatur von Hofmannsthal bis Mayröcker“

Von Swati AcharyaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swati Acharya

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es bedarf einer besonderen Art der ‚Erzählweise‘, mit der ein Autor einen umfassenden Überblick über eine bestimmte Literatur schaffen und, wichtiger noch, den Lesern dabei mal unterhaltend, mal kritisch belehrend und mal nachdenklich machend zum Fragen ermutigen kann: Rüdiger Görner macht genau dies in seinem neuen Buch zur österreichischen Literatur, und er macht es meisterlich. Görner ist ein international bekannter, mit über 30 Büchern ausgewiesener Germanist. Seine Polyglossie sowie er- und gelebte Mehrkulturalität verleihen dem Werk eine fast selbtsverständliche Transnationalität. Der Autor verkündet ganz nebenbei, für ihn „österreich[e] es überall“. Ist es dabei von Bedeutung, dass Görner seit 1981 in London lebt und lehrt? Vielleicht hat er gerade deshalb einen besonders analytischen Blick auf die österreichischen Schriftsteller?

Görners Buch ist nicht nur eine tour d’horizon, sondern auch eine tour de force, wenn man sieht, wie er aus einer spezifisch österreichischen Sprachskepsis geborenen Hyperbolität dieser Literatur einen Bogen schlägt zu einer alle Kunstformen des 20. Jahrhunderts umfassenden Diskussion der Avantgarde. Das Buch besteht aus in Stil und Thematik sehr unterschiedlichen Essays, die kürzlich von Heide Kunzelmann teilweise neu übersetzt und herausgegeben wurden. Der Werktitel weist schon auf eine der wichtigsten Kontroversen über die österreichische Literatur hin, die einst von Wendelin Schmidt-Dengler mit den Worten in den Fokus gerückt wurde: „Die Literatur aus Österreich ist gewiß zum überwiegenden Teil in deutscher Sprache abgefaßt, aber sie gehorcht auf Grund der historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ganz anderen Gesetzen, auch im Bereich der reinen Form und des Inhalts.“ Das auffälligste Merkmal von Görners Publikation ist nun die bewusst heruntergespielte Vertrautheit mit den kulturellen Motivationen der einzelnen Autoren aus Österreich, die jedoch von ihm so behandelt werden, dass Literaturwissenschaftler davon profitieren.

Das Buch hat vier klar gegliederte Kapitel, die die Schwerpunkte des Autors benennen: ;Prisma Tradition‘, ‚Lyrische Momente‘, ‚Prosa im Gestern‘ und ‚Spätmoderner nie‘. Die Studie fasst auf knapp 300 Seiten kanonische Texte der österreichischen Literatur zusammen. Die meisten Autoren sind der internationalen Leserschaft geläufig, nur wenige sind vielleicht weniger bekannt. Schon der Untertitel grenzt das Thema des Bandes ein und legt den Schwerpunkt auf den Zeitraum zwischen den Lebzeiten Hugo von Hofmannsthals und Friederike Mayröckers. Den Besprechungen folgen Diskussionen mit gesonderter Behandlung einzelner Werkbeispiele. Dabei besticht die Vielfältigkeit der Fragestellungen des Autors, besonders auch seine Vertrautheit mit der europäischen Musik sowie seine Vertrautheit mit den anglophonen und romanischen Literaturen, die seinen Analysen eine weitere zusätzliche Dimension verleihen. Selten begegnet man in literaturwissenschaftlichen Büchern einem vergleichbar literarischen Schreibstil: Görners Buch gönnt seinen Lesern ein „synästhetisches“ Erlebnis durch seine zwar allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden, aber nie „trockenen“ Einsichten. Der Band bietet eingehende Kritiken zu einigen für die Germanistik im deutschsprachigen Raum und im Ausland unerlässlichen Autoren wie Hugo von Hofmannstahl, Georg Trakl, Rainer Maria Rilke, Ernst Jandl, Erich Fried, Stefan Zweig, Robert Musil, Thomas Bernhard, Friedericke Mayröcker, mit solchen zu Nikolaus Lenau, Alexander Lernet-Holenias oder auch Heimito von Doderer, die manchem Leser, zumal in der Auslandsgermanistik, hier vielleicht zum ersten Mal in einer Analyse begegnen.

Der gemeinsame Nenner der Betrachtungen der in diesem Band versammelten AutorInnen ist ihr Bezug zur deutschen Sprache, die im österreichischen Geschichts- und Kulturraum etwas fragiler und sensibler wirkt als anderswo. Man kennt dieses Phänomen unter den eher nebulösen Chiffren „Sprachkrise“ oder „Sprachskepsis“. Bei Görner gewinnen sie scharfe und genaue Konturen.

Görners Interpretationen der einzelnen Werke sind auch deshalb besonders wertvoll, weil sie nicht nur inhaltliche Einsichten bieten, sondern auch genre-spezifische Fragen behandlen. Bei der Diskussion des Lustspiels „Der Schwierige“ von Hofmannstahl stellt Görner etwa die Frage nach dem eigentlichen Wesen des Lustvollen, das dem Genre gemäß ist. Er kann die Frage nach dem Lustspielcharakter der Hofmann’schen Dichtung mit einem Verweis auf Nietzsches Aphorismen in „Menschliches, Allzumenschliches“ beantworten und gleichzeitig ein verwandtes Gedicht aus der englischen Gesellschaftskomödie mit heranziehen: T. S. Eliot’s „The Family Reunion“ (1938/39).

Görner kategorisiert Hofmannsthals Lustspiel „Der Schwierige“ als „erfundene Gespräche“. Er hebt die unnötige Komplizierung des Entzückens dadurch hervor, dass „etwas offenes vergittert wird, damit man das Innere reizvoller erspähen kann.“. Er fasst die „Sprachkrise“ sehr präzise als „Vertrauensverlust in den Bedeutungs- und Wirkungsgehalt des Kommunikationsmittels ‚Wort‘.“ Nebenbei erfährt man viel über die Berührungspunkte der englischen Literaturgeschichte mit der deutschen – etwa über T. S. Eliots Rezeption von Hofmannsthals dramatischem Schaffen.

Görner problematisiert die Befindlichkeit des „Heimkehrertypus“ und die sprachlichen, temporalen und emotionalen Folgen des Heimkehrens überhaupt: Seine vielschichtige sprach-, literatur- und kulturgeschichtliche Gewandtheit verhilft ihm zum „Pseudosemantisieren“. So ist nach Görner der Heimkehrende immer auch ein „Heim-Kehrer“, „im Sinne eines Zurückkommenden, der das Zuhause umkehrt, in sein Gegenteil, nämlich Fremde verkehrt und damit die Dagebliebenen verwirrt. Dem Heimkehrenden verändern sich nahezu alle Paradigmen.“

„Ilse Aichingers Sprachprismen“ sowie drei Gedichtinterpretationen zu Franz Werfel, Thomas Bernhard und Evelyn Schlag sind besonders wertvolle Essays in Görners Band. Die Anekdote etwa, wie Görner einmal beim Fahren in einem öffentlichen Verkehrsmittel einem Gedicht von Ilse Aichinger begegnet sei, und was für Reaktionen dabei entstanden seien, ist ein wahrer Lesegenuss und ein engagiertes, alternatives Plädoyer für die Beschäftigung mit Lyrik.

„Gedichte können maulwurfsgleich untergründig oder gleitend transitorisch sein, man kann sie auch als Werbung lesen – Werbung für das Wort. […] Gedichte in öffentlichen bis teilprivatisierten Verkehrsmitteln lassen einen aufmerken. Sie können einen sogar wachrütteln. Dem Fahrgast, der eigentlich kein Gast ist, sondern Fahrkunde, erlauben solche Gedichte, aus – oder umzusteigen – während der Fahrt, noch bevor er seine Station erreicht hat. Man steigt um oder aus in eine poetische Gegenwelt.“

Görner hört das Musikalische zwischen den Zeilen der Gedichte: Er kann außerdem den Einfluss des französischen Kubisten Georges Braque (1882-1963), von Juan Gris, dem spanischen kubistisch orientierten Maler (1887-1927) und von Anton Webern, dem österreichischen Komponisten (1883-1945) nachweisen. Warum ist die interdisziplinäre und intermediale Sprachkritik bei Görner so wichtig? Sie verschafft eine „Synästhäsie“ und macht die diversen Dimensionen eines Sprachkunstwerks transparent. Er schätzt zum Beispiel bei Strawinsky, dass dieser Weberns Töne für „geschliffene Diamanten“ hält und borgt bei Pierre Boulez den Terminus „Tonprismen“ sowie die sie „umschleifende Stille“. Das nutzt er weiter, um das Wesen und die Funktion des Schweigens bei Aichinger zu deuten. Aichingers Schweigen rechne mit dem „beständigen Wechselspiel von Hoffnung und Vergeblichkeit“ – als einem fruchtbaren Urgrund der Sprache.

Görner behandelt die „prosaische Poesie“ bei Ernst Jandl und Erich Fried und „poetische Prosa“ bei Aichinger und Bachmann. Der Verfasser scheint eine Vorliebe für das Lyrische zu haben, was an der Autorenauswahl und Kapitellänge in den einzelnen Sektionen abzulesen ist. Wenn etwas in diesem Werk zu kurz kommt, dann ist es ein Blick auf die weiblichen Stimmen der österreichischen Literatur. Eine relative Ausnahme bildet der Artikel über Ilse Aichinger. Über Ingeborg Bachmann erfährt man eigentlich nur einiges über ihren Briefwechsel mit Paul Celan. Das Kapitel über Friedericke Mayröcker trägt schon am Anfang den sich entschuldigenden Untertitel „Eine kurze Betrachtung zum langen Werk der Friederike Mayröcker“. Die da aufkommende Frage, warum die AutorInnenauswahl Görners bei Mayröcker aufhört und nicht mindestens bis zu Elfriede Jelinek weiter geht, bleibt vom Autor unbeantwortet.

Was nimmt jener Leser aus diesem Werk mit, der kein Fachmann der österreichischen Literatur ist? Außer dem Panoramablick über die „spekulative Geographie“ und die verdrängte Geschichte des Landes verhelfen Görners Analysen zu Erkenntnissen über die Sonderkonstellation der österreichischen Sprache. Wörter lernt man als „empfindliche Instrumente des Gleichgewichts und der Unterscheidung“ wahrzunehmen. Es handelt sich um ein Bekenntnis zu jeder Art von Spracharbeit, ob aus der Sicht des Produzenten oder eines Rezipienten, denn die Wörter erlauben laut Görner ein „Gleichgewicht und die Unterscheidung nur dann, wenn man sich selbstkritisch ihrer annimmt und sie nicht ideologisch vergewaltigt“.

Jeder, der sich in Zukunft mit dem Phänomen „ der modernen österreichischen Literatur“, aus der Perspektive der Sprachvirtuosität der jeweiligen Autoren und als Reaktion auf eine als zunehmend problematisch empfundene gesellschaftliche Wirklichkeit dieses historisch komplexen Landes auseinandersetzen möchte, kommt an dieser epochalen Studie Rüdiger Görners nicht mehr vorbei.

Titelbild

Rüdiger Görner: Sprachrausch und Sprachverlust. Essays zur österreichischen Literatur von Hofmannsthal bis Mayröcker.
Sonderzahl Verlag, Wien 2011.
280 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783854493594

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