Norm und Bedeutung

Dana Riesenfelds „The Rei(g)n of ,Rule‘“ und die derzeitige Normativitätsdebatte in der Sprachphilosophie

Von Thomas KupkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kupka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Bedeutung normativ ist (ob nun in ihren Bedingungen oder in ihren Folgen), gilt in der analytischen Philosophie heute einigermaßen unangefochten. Gleichwohl gibt es eine kleine aber signifikante Gegenströmung, die genau das bestreitet. Und die ist schon deshalb nicht zu unterschätzen, als sie an die Sprachphilosophie Donald Davidsons anknüpft, auf den sich heute ja auch die meisten semantischen Normativisten wenn nicht direkt beziehen, so doch zumindest an ihm reiben. Das hier zu besprechende Buch macht da keine Ausnahme. Es hält schon den Begriff der Regel (Rule) für ein verfehltes Konzept.

Eine Rezension im „Notre Dame Philosophical Review“ (Okt. 2011) machte mich auf das Buch aufmerksam. Und beim ersten Lesen der Rezension hatte ich den Eindruck, die Rezensentin Kathrin Glüer sei vor allem darüber verärgert, dass die Autorin die derzeitige analytische Diskussion über Sprachregeln nicht zur Kenntnis nimmt. Das stimmt, so viel sei vorausgeschickt. Daher zuvor eine kurze Übersicht zur Diskussion.

Kathrin Glüer und Åsa Wikforss haben mit ihrem Papier „Against Content Normativity“ („Mind“ 118 [2009]) einiges Aufsehen erregt und eine der interessantesten philosophischen Debatten der letzten Jahre angestoßen. Es geht um die Frage, ob Sprache und Bedeutungszuweisung regelgeleitete Aktivitäten sind und darum, was wir zu denken hätten, sollte sich herausstellen, dass dies nicht der Fall ist. Glüer und Wikforss glauben, im weitesten Sinne Donald Davidson folgend, dass Sprache und Bedeutung sich nicht regelgeleitet vollziehen. Ebenso Anandi Hattiangadi (“Oughts and Thoughts”, 2007). Zu den Regelskeptikern gehören aber natürlich auch Naturalisten wie Fred Dretske, Jerry Fodor und Paul Horwich. Und auch Daniel Dennett wird man dazu zählen können. Zum Ganzen hat Kathrin Glüer nach ihrer von Herbert Schnädelbach und Donald Davidson betreuten Dissertation („Sprache und Regeln“, 1999) bereits im Jahr 2000 einen Schwerpunkt in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ geleitet und selbst erste Gedanken zur „Bedeutung zwischen Norm und Naturgesetz“ vorgetragen.

Die Fraktion der analytischen Normativisten hingegen führt Saul Kripke an mit seinem mittlerweile klassischen Buch „Wittgenstein on Rules and Private Language“ von 1982. Paul Boghossian, einer der interessantesten Autoren hier, nahm von diesem Buch seinen Ausgang, wenngleich sich bei ihm ein Wandel vollzog. Meinte er noch in „The Rule-Following Considerations“, („Mind“ 98 [1989]), der analytische „talk of rule-following is harmless“, zumindest wenn man ihn im Sinne Kripkes versteht und etwa verglichen mit transzendentalen Idealismen kantischer Provenienz, so beginnt er in „The Normativity of Content“ („Philosophical Issues“ 13 [2003]), angeregt durch Alan Gibbard, an Bedeutungsnormativität zu zweifeln, insoweit jedenfalls, wie wir nicht ihr Verhältnis zu unseren Begehrungsvermögen – ich nehme das kantische Wort für das englische ,desire‘ ohne theoriestrategische Absicht – untersucht haben, was ironischer Weise dazu führt, dass wir eigentlich die Naturalisten, insbesondere Informationssemantiker wie Fodor und Dretske, fragen müssten, wie unsere Inhalts- und Bedeutungsregeln zustande kommen. Die an Wittgenstein angelehnte Idee einer „blind yet blameless inference“ in „Blind Reasoning“ („Proceedings of the Aristotelian Society“, Supp. Vol. 77 [2003]) vermeidet entsprechend Reflektionen auf epistemischen Status und wie auch immer begründungstheoretisch errungene Rechtfertigungen von deduktiven Inferenzfolgen und konzentriert sich auf die Frage, was uns zu der im gegebenen Fall verarbeiteten Bedeutung berechtigt (etwa im Sinne des begrifflichen Konditionals, dass wir nach modus ponens p und ,p→q‘ als Grund nehmen, um q für wahr zu halten). Bei solchen ,Berechtigungsbedingungen‘, wenn man so will, handelt es sich jedoch weniger um bedeutungskonstitutive Regeln, sondern im Grunde ganz ,kontinentaleuropäisch‘ um hermeneutische Vorverständnisse. Und die, wie wir seit Hans-Georg Gadamer wissen, sind kaum zu bändigen durch Regeln und Methode. In Wittgensteins Sinne verhalten sie sich eben wesentlich ,blind‘, was Boghossian schließlich in „Epistemic Rules” zu dem Vorschlag zusammenzieht: „[W]e would have to take as primitive [about rule-following or rule-application] a general (often conditional) content serving as the reason for which one believes something, without this being mediated by inference of any kind” („Journal of Philosophy” 105 [2008]).

Das ist ziemlich genau Wittgensteins „On Certainty“. Und in diesem weiteren Sinne gehören auch Crispin Wright („Rails to Infinity“), Simon Blackburn („The Individual Strikes Back & Ruling Passions“), Robert Brandom (inferenzielle Semantik aus ,sozialer Praxis‘) und John McDowell (,zweite Natur‘) zu den Normativisten, je mit eigenen Anfangsvermutungen und natürlich eigener Abstandsbestimmung zum Naturalismus. Gleichwohl ist die Situation einigermaßen unübersichtlich. Breitet sich doch auch im Lager der analytischen Normativisten zumindest hinsichtlich des intentionalen Regelfolgens eine veritable Skepsis aus, was Daniel Whiting vielleicht bewogen haben mag, Bedeutungsnormativität explizit zu verteidigen („The Normativity of Meaning Defended“, Analysis 67 (2007)). Indes hat er auch den Anthologieband „The Later Wittgenstein on Language“ (2010) herausgegeben, der wiederum Glüers und Wikforss’ zweites wichtiges Papier enthält: „Es braucht die Regeln nicht: Wittgenstein on Rules and Meaning“.

Beim zweiten Lesen aber der eingangs erwähnten Rezension kam mir die Idee, dass Dana Riesenfeld hier vielleicht ganz eigene und unabhängige Gedanken versuchen könnte, Gedanken vielleicht jenseits der etablierten Pfade von Normativisten und Non- oder Anti-Normativisten. Es einmal selbst durchzusehen, dachte ich,  lohnt allemal (was man ja aus Kathrin Glüers Rezension nicht sofort schließen kann). Und in der Tat, das Buch startet furios: Nicht nur alle bisherigen sprachphilosophischen Regelmodelle seien theoretisch ungenügend, auch all jene, die sich bisher mit dem Begriff der Regel beschäftigt haben (sie nennt zunächst Frege und Wittgenstein, Carnap und Sellars, Searle und Brandom), seien grandios gescheitert. Man ist also gespannt.

Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass (sprachliche) Regeln entweder ,normativ‘ oder ,notwendig‘ sein könnten, nicht aber beides zugleich. Und das folgert Riesenfeld aus einer berühmten Passage Freges: „Man gebraucht das ,Gesetz‘ in doppeltem Sinne. Wenn wir von Sittengesetzen und Staatsgesetzen sprechen, meinen wir Vorschriften, die befolgt werden sollen, mit denen das Geschehen nicht immer im Einklang steht. Die Naturgesetze sind das Allgemeine des Naturgeschehens, dem dieses immer gemäß ist. Mehr in diesem Sinne spreche ich von Gesetzen des Wahrseins“ (Der Gedanke, in: „Beiträge zur Philosophie des Deutschen Idealismus“ I, Heft 2 (1918)).

Man hat lange überlegt, was wir darunter verstehen sollen: Können wir hier gar eine empiristische Grundierung hineinlesen oder stehen wir eher vor einer Art Gedankenplatonismus, den uns Michael Dummett erläutert hat. Aufklärung geben die nächsten beiden Sätze, die meist nicht mit zitiert werden (weder von Riesenfeld, noch von Glüer und Wikforss, „Against Content Normativity“). Und die stellen klar: „Freilich handelt es sich hierbei nicht um ein Geschehen, sondern um ein Sein. Aus den Gesetzen des Wahrseins ergeben sich nun Vorschriften für das Fürwahrhalten, das Denken, Urteilen, Schließen“. Frege, so wird man also sagen müssen, hatte deutlich einen normativen Ausgangspunkt im Sinn (so nimmt ihn ja auch Brandom, „Making It Explicit“, 1994).

Nach Riesenfeld wären genau dann aber Regeln nicht ,notwendig‘. Die Idee geht so: “Normativity by definition is devoid of necessity: A norm, unlike a necessity, can essentially tolerate its own lack of implementation. This feature is what defines a norm. Appending necessity to normativity brings about the hybrid notion of normative necessity. This, I claim, is a contradiction in terms. It empties the meaning of normativity. Any rule, linguistic or otherwise, can either be normative or necessary but not both”.

Die Überlegung ist also: Charakteristisch für Regeln ist, dass sie verletzt werden können, ob nun intentional oder unbeabsichtigt, gerechtfertigt oder ungerechtfertigt – das eben sei der Kern der Sein/Sollen-Unterscheidung. Nehmen wir indes wieder Frege hinzu, und zwar in der Auslegung Dummett, so kommt sehr wohl so etwas wie ,normative Notwendigkeit‘ zum Vorschein. Freges ,Gesetze des Wahrseins‘, wie man weiß, sind ja fürs Subjekt vollständig indisponibel. Und zum Wahrsein eines Gedankens gehört nicht einmal, dass er je gedacht wird, womit bekanntlich auch „die Arbeit der Wissenschaft […] nicht in einem Schaffen, sondern in einem Entdecken von wahren Gedanken“ besteht („Der Gedanke“).

Nun entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass Glüer und Wikforss in „Against Content Normativity“ eine ganz ähnliche Frage umtreibt wie Riesenfeld. Hier ist die Idee, dass Normen nicht ,konstitutiv‘ und ,regulativ‘ zugleich sein können, denn bekanntlich können bedeutungskonstitutive Regeln nicht ihrerseits auf Regeln beruhen, ohne sich in infiniten Regressen zu verlaufen. Kant hat das ja bereits lakonisch bemerkt in der „Kritik der reinen Vernunft“ (B 172). Bei Riesenfeld hingegen ergibt sich aus der Unterscheidung normativ/notwendig eine Art zweites Paradox (das erste lässt sie natürlich bei Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, §§ 198, 201): „[I]f rules are considered constitutive (of speech acts, as Searle claims, or of interpretation, as Davidson argues) then there is no meaning to the idea of them being violated. On the other hand, if rules can be violated, they are reduced to suggestions or recommendations, lacking obligatory power”. Oder kurz, so müssen wir das wohl verstehen: Regeln, denen wir folgen, sind gar keine Regeln. – Das hat einen gewissen Charme.

Nun ist natürlich einzuräumen, dass die derzeitige Debatte um die Normativität der Bedeutung noch nicht so recht zu Ergebnissen gekommen ist. Normativisten, wie ich oben skizziert habe, ziehen sich mangels Alternativen aufs Wittgensteinsche „blinde Regelfolgen“ zurück, Non-Normativisten dagegen können kaum beantworten, was denn gelten soll, wenn man von Normen absieht. Nicht zuletzt lassen sich infinite Regresse beinahe überall aufmachen, wo einmal ein Wort gesagt ist. Eine richtig starke Position gegen semantische Normativität ist das jedenfalls noch nicht. Doch Riesenfeld macht es sich zu einfach, wenn sie sagt: „[I]f so many great thinkers have failed to clearly define rules and their function in language, then it is time we give up on the attempt”.

Das ist ein gewissermaßen falsch verstandener Wittgenstein. Der meinte, dass wir die Leiter wegwerfen können, wenn wir sie bestiegen haben, also dass nachdem wir gewisse Positionen hinter uns gelassen haben – den transzendentalen Idealismus etwa – wir uns mutig an neuen (philosophischen) Gedanken versuchen sollen. Doch erstens ist die sprachanalytische Normativitätsdebatte noch längst nicht so weit, dass man die in ihre entwickelten Vorschläge getrost hinter sich lassen könnte, und zweitens, was den Mut zu neuen mutigen Gedanken angeht, springt Riesenfeld deutlich zu kurz. Sie dekliniert ihre Idee, dass ,normativ‘ und ,notwendig‘ nicht zusammenpassen, anhand der bekannten Autoren durch (Cavell, Kripke, Baker & Hacker, Meredith Williams, Cora Diamond) und landet schließlich bei Searles konstitutiven Regeln für Sprechakte (nicht für Rationalität; siehe „Rationality in Action“, 2001) und Davidsons ,Principle of Charity‘. Hier aber rächt sich, was ja Kathrin Glüer bereits bemerkt hat, nämlich dass Riesenfeld die einschlägige Literatur der letzten 15 Jahre weitgehend ignoriert. Das gilt mehr noch für die Literatur in der Folge Davidson als für die in der Folge Searle. Ist doch Davidsons wahrheitstheoretische Semantik heute der philosophisch am weitesten entwickelte Zugang zur Semantik natürlicher Sprachen. Und man kann bei ihm meinen, dass er durchaus ein Zusammengehen von ,normativ‘ und ,notwendig‘ für möglich gehalten hat, auch im Übrigen eines von ,bedeutungskonstitutiv‘ und ,regulativ‘.

Zwar hat Davidson wiederholt erklärt, Bedeutungsverstehen setze keine geteilten Vorverständnisse voraus, ja nicht einmal eine geteilte Sprache und schon gar nicht Konventionen und Regeln, doch ist er ganz allgemein der Auffassung, dass eine gewisse holistische Normativität für Rationalität unentbehrlich ist (und: „where the norms are basic they are constitutive“), was auch fürs ,Principle of Charity‘ gilt (OUP-Essays, vol. IV; „Truth & Prediction”, 2005). Es ist also nicht ganz leicht, sich hier zurechtzufinden. Kathrin Glüer, in ihrer soeben erschienenen Einführung („Donald Davidson: A Short Introduction“, 2011), hat sich wie immer instruktiv darauf einen Reim zu machen versucht. Das kann ich unbedingt empfehlen; ebenso wie die beiden Davidson Bücher von Ernest Lepore und Kirk Ludwig (2005 und 2007). Die Schwierigkeit besteht bekanntlich darin, dass Davidson außer seinem posthum veröffentlichten Lecture-Buch („Truth & Prediction“, 2005) nur Aufsätze hinterlassen hat. Und dass da mal das ein oder andere auf den ersten Blick nicht so ganz zusammenstimmt, mag vielleicht nicht wundern. Es wird also künftig darauf ankommen, im Wege der Interpretation mögliche Lücken und Widersprüche zu schließen.

Dana Riesenfeld indes, das muss ich leider sagen, hat hierzu kaum einen Beitrag geleistet, wie auch ihre Idee, dass Sprachregeln nicht ,normativ‘ und ,notwendig‘ zugleich sein können, nicht weiter trägt, als zu dem recht pauschalen Vorschlag, sich vom Begriff der Regel zu verabschieden. Wie man hier besser zurechtkommen kann, zeigen die Schriften von Paul Boghossian, Paul Horwich und Crispin Wright; und nicht zu vergessen: von Akeel Bilgrami, der eine interessante und gewissermaßen doppelte Zwischenstellung einnimmt: Einmal zwischen Normativisten und Non-Normativisten und zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Aber auch das behandelt Riesenfeld nicht. Sie verwendet von Bilgrami nur jene Stellen, in denen er mit Davidson übereinstimmt und die ihre allein auf die Begriffsanalyse des Wortes ,Rule‘ verengte Sicht bestätigen.

Die Schrift, das sei noch angefügt, enthält neben erstaunlich vielen Redundanzen (der Text ist ja nur 124 Seiten lang) einige Unkonzentriertheiten, Fehler und Widersprüche; etwa wenn es pleonastisch heißt: „normativity distinguishes between ought and is“, oder die Unterscheidung zwischen Regeln und Normen zwar für entscheidend gehalten aber nicht erklärt wird, oder schließlich, wenn David Lewis‘ „Convention“-Buch (1969) umstandslos mit Saussures ,Arbitrarität der Zeichen‘ zusammensteht. Überraschend ist auch der Rekurs auf Stanley Cavell bei der Unterscheidung zwischen ,Müssen‘ und ,Sollen‘: „Must We Mean what We Say?“ (1969). In Riesenfelds Lesart ,müssen’ wir, und sie unterlegt das beispielshalber mit der Verpflichtung zur Rückgabe geliehenen Geldes. Die aber ist (zumindest philosophisch, zumal nach Cavell) ein ausgezeichneter Fall von Sollen. Man hat das in den 1950er- und 1960er-Jahren bereits diskutiert. Elisabeth Anscombe etwa, wenn ich mich recht erinnere, machte sich darüber Gedanken in „On Brute Facts“ („Analysis“ 18 [1958]). Dass sie selbst das Sollen für empirisch hielt, tut hier nichts zur Sache, sondern betrifft die Frage, ob es nützlich ist, an der Idee des Naturalistischen Fehlschlusses festzuhalten. Doch obwohl dieser Gedanke sich implizit durch Riesenfelds gesamte Arbeit zieht, beantwortet sie diese Frage nicht.

Titelbild

Dana Riesenfeld: The rei(g)n of "rule".
ontos verlag, Frankfurt a. M. 2010.
132 Seiten, 69,00 EUR.
ISBN-13: 9783868380859

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