Zu dieser Ausgabe

Unsere Zeitschrift ist ein heterogenes Forum. Nicht nur die Kritiker, die sich hier äußern, sind oft unterschiedlicher Meinung. Es kommt selbstverständlich auch vor, dass sich die Redaktion von literaturkritik.de uneins ist. Besonders kontrovers werden Diskussionen und Debatten in der Regel, wenn es um politische Themen geht. Doch wann sind Literatur- und Kulturkritik schon unpolitisch. Oder wann waren sie es jemals?

Wenn man nur einmal kurz nachdenkt, dann fallen einem auf Anhieb viele wichtige Presse-Kontroversen der letzten Jahrzehnte ein, die allesamt in die (Geistes-)Wissenschaften und in die Politik, ja in die gesamte politische Kultur Deutschlands hineinwirkten und – mal mehr, mal weniger – ‚Geschichte gemacht‘ haben bzw. sogar als ‚Schulwissen‘ in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Da wäre etwa der Historikerstreit von 1986 zu nennen, der Literaturstreit um Christa Wolf im Jahr 1990, die Aufregung um die „Wehrmachtsausstellung“ 1995ff., die Goldhagen-Kontroverse 1996, diejenige um das „Schwarzbuch des Kommunismus“ 1997/1998, die sogenannte Walser-Bubis-Debatte nach Martin Walsers Paulskirchen-Rede von 1998, der Skandal um Walsers Roman „Tod eines Kritikers“ im Jahr 2002, der Streit um Peter Handkes Serbien-Texte und seinen Verzicht auf den Heinrich-Heine-Preis der Stadt Düsseldorf 2006, die Kontroverse um Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ (2008) und viele vergleichbare Ereignisse mehr. Die Debatte um Helene Hegemanns Debütroman „Axolotl Roadkill“ (2010) zum Beispiel fiele dabei in ihrer ebenfalls phänomenalen Heftigkeit etwas aus der Reihe, war es doch hier ein weniger politisches Problem denn ein ästhetisches bzw. eines des Verständnisses von Intertextualität, das die Gemüter bewegte und die Kritiker nicht zuletzt verwirrte. Die damit verbundenen Kontroversen über das Urheberrecht in Zeiten des Internets beschäftigen uns weiter – auch in dieser Ausgabe.

Über Langeweile können wir also kaum klagen, solange unsere Presselandschaft so lebendig bleibt und nicht in einem öden Sumpf aus marktkonformem PR-Gerede versinkt: Gerade erst ist die diesjährige Kracht-Debatte abgeflaut, über die wir im letzten Monat ausführlich berichteten, schon geht es nunmehr munter weiter mit Günter Grass und seinem umstrittenen Gedicht „Was gesagt werden muss“. Auch diese Kontroverse ließ der Redaktion von literaturkritik.de selbstverständlich keine Ruhe und führte dazu, dass wir unser geplantes Programm änderten, um die Mai-Ausgabe zu einer solchen über das Thema „Literatur und Politik“ zu machen.

Dabei geht es übrigens nicht nur um Grass, sondern auch um Bernhard Schlink, der nicht nur als Verfasser des Romans „Der Vorleser“ (1995) bezeichnende Diskussionen auslöste, sondern sich auch als Rechtswissenschaftler, Essayist und publizistischer ‚Mahner‘ einen Namen machte. In Heidelberg hielt er eine Poetikvorlesung hielt, um die es in zwei Essays unserer Ausgabe geht.

Zum Grass-Gedicht haben wir übrigens auch ein Diskussionsforum für Sie eingerichtet – in unserem Kulturjournal, in dem Sie gerne einen eigenen Beitrag zur Debatte anbieten können.

Herzlich
Ihr
Jan Süselbeck