Die Flucht aus der Mittelmäßigkeit

Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem Roman „Am Schwarzen Berg“ die Geschichte einer Nachbarschaft

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Häuser, bewohnt von zwei Ehepaaren mit zwei Lebensentwürfen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten – und das in direkter Nachbarschaft. Hier der nonkonformistische und belesene Geschichts- und Deutsch-Lehrer, dort der ehrgeizig-strebsame Arzt. Hier die leicht chaotische Bibliothekarin, dort die schon zwanghaft penible Hausfrau. Hier die kinderlosen Bubs, dort die stolzen Eltern Hajo und Carla Rau. Hier die verwilderte und leicht verfallene Behausung, dort das renovierte und modernisierte Eigenheim. Diese Kontraste entwirft Anna Katharina Hahn in ihrem jüngsten, zweiten Roman „Am Schwarzen Berg“, der für den Preis der Leipziger Buchmesse 2012 nominiert wurde. Dieses Spiel der Gegensätze treibt sie auf die Spitze und scheut dabei auch vor kleinsten Details nicht zurück: Hier schwört Emil Bub auf die Nassrasur, dort sein Nachbar auf die elektronische Alternative. Das einzige Bindeglied der ungleichen Anrainer ist dabei der Rau’sche Sohn Peter, der in Emil und seiner Frau Veronika eine ‚zweite‘ Familie findet.

Die Rückkehr ebendieses Peters in sein Elternhaus ist es, die als Katalysator für die Erinnerung der Protagonisten fungiert und damit letztlich immer wieder die Handlung vorantreibt. In die fortschreitende Geschichte streut Hahn zahlreiche Rückblenden in das Leben der Charaktere ein und entwirft mit psychologischem Scharfsinn individuelle Persönlichkeiten, die vor dem geistigen Auge des Lesers Gestalt annehmen. Dabei ist der depressive Peter, der jüngst von seiner Frau Mia verlassen wurde, die auch die gemeinsamen Söhne Ivo und Jörn eigenmächtig mitgenommen hat, der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, die vor dem Hintergrund der Proteste um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ spielt. Erst Peters Präsenz treibt das Geschehen immer wieder voran – ohne ihn verlieren sich die Charaktere geradezu in ihren ebenso individuellen wie emotional-aufschlussreichen Rückschauen.

Die einzige Gemeinsamkeit aller Protagonisten ist dabei ihr drängender Wunsch nach Veränderung, nach dem Ausbruch aus dem Einerlei und der Durchschnittlichkeit. Sie alle retten sich mit kurzen Ablenkungen und wenig Erfolg durch den Schrecken ihres allzu bürgerlich-mittelständischen Alltags. Als Mittel dazu scheint ihnen schlechthin alles recht zu sein: Die Bubs flüchten sich in Alkoholismus und diverse Seitensprünge, um sich über die Tristesse ihrer Arbeit hinwegzutrösten und sehen im Nachbarjungen „Peterle“ eine Abhilfe und Ersatz für die eigene Kinderlosigkeit. Hajo Rau hingegen arbeitet unermüdlich und scheinbar rund um die Uhr, währenddessen sich Carla zur gewissenhaften Hausfrau und ‚Übermutter‘ für Peter entwickelt hat und sich in eine kurze Affäre mit Emil stürzt. Nebenbei jagt dieser wiederum auf Flohmärkten und Auktionen einem verloren geglaubten, mysteriösen Manuskript von Eduard Mörike hinterher, dessen Werk immer wieder Thema des Buches ist – schon der Titel und damit der Wohnort der Familien ist der ersten Zeile des Gedichtes „Die Elemente“ entlehnt: „Am schwarzen Berg da steht der Riese“.

Anna Katharina Hahns Stärke liegt unzweifelhaft in der Kreation und Ausarbeitung ihrer Hauptcharaktere. Ihnen verleiht sie psychologischen Tiefgang und eine eigene, nachvollziehbare Identität, ohne dabei der Gefahr der Überfrachtung zu erliegen. Gekonnt zeichnet sie nachvollziehbare Individuen, deren innere Zerrissenheit im Ringen um den kleinen Peter stets nachvollziehbar ist. Die Verquickung der fortschreitenden Erzählung mit zahlreichen Rückblenden in die Vergangenheit wirkt überdies stets stimmig und schafft ein anregendes und abwechslungsreiches Element in der doppelbödigen Erzählung.

Was ihr hingegen nicht gelingt, ist schlichtweg alles, was über diesen – zweifellos wichtigen – Rahmen hinausreicht. Dabei entsteht oftmals der Eindruck, die in Stuttgart lebende Autorin habe streng nach einem Handbuch für Autoren geschrieben: Immer wieder verliert sich Hahn in der mehr oder weniger ausufernden Beschreibung von Nebenschauplätzen, die letztlich nur eine Momentaufnahme und Randnotiz bleiben. So erfährt der Leser im Laufe des Buches vieles über verschiedene, ebenso facettenlose wie handlungsirrelevante Personen, über diverse Autos, die doch tatsächlich am Straßenrand parken und sogar einiges über die Geschichte von Mias Nachthemd. So entsteht leider nicht das gewünschte Alltags-Panorama, sondern lediglich eine Abfolge von Belanglosigkeiten.

Darüber hinaus übersteigert Hahn den Einsatz von Adjektiven, die den Roman offenbar tiefgründiger und farbenfroher machen sollen, knapp an die Grenze des Erträglichen. So entstehen Sätze wie der Folgende, der beileibe kein Einzelphänomen ist: „Auf vielstöckigen Baugerüsten ließen halbnackte Männer mit rotbraun verbrannten Oberkörpern farbbeschmierte Holzbretter von Hand zu Hand in die Tiefe gleiten.“ Fast ist man in Anbetracht dieser Aneinanderreihung geneigt, gedanklich noch das ‚bodenlose‘ zur Tiefe einzufügen, was nicht weniger schablonenhaft wäre, als es die übrigen Beschreibungen bereits sind. Erschreckend klischeehaft nehmen sich ebenfalls die Stellen aus, an denen Hahn Jugendliche und ihr Verhalten beschreibt – offenbar kann sie hier keine Kritik ohne den Holzhammer üben. Respektlosigkeit und Vulgärausdrücke sind die einzigen Merkmale aller Halbwüchsigen im Buch – Peter selbstredend ausgenommen – und wirken wie ein graues Abziehbild der Realität. Auch der übersteigerte Alkoholkonsum der Bubs drückt sich letztlich nur dadurch aus, dass sie stets einen Flachmann in der Tasche haben, keine Gelegenheit zu einem gehörigen Schluck auslassen und dass überall in ihrer Nähe diverse Alkoholika herumstehen. Eine subtilere und stärker psychologisierende Darstellung hätte den betreffenden Passagen zweifellos gutgetan.

Was somit bleibt, ist ein durchaus zwiespältiges Bild: Hier das psychologische Meisterstück um die Beschreibung des Innenlebens der fünf Hauptcharaktere, dort die Verzettelung in unzählige Nebenschauplätze. „Am Schwarzen Berg“ ist sicherlich kein schlechtes Buch, dafür sind zahlreiche Stellen schlichtweg zu gelungen und die Melancholie der Geschichte zu ergreifend – aber es ist eines, das aufgrund einiger gravierender Schwächen letztlich doch einen faden Beigeschmack hinterlässt.

Titelbild

Anna Katharina Hahn: Am Schwarzen Berg. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
237 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422823

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch