Interdisziplinäre Einsichten

Bernd Fischer und Tim Mehigan haben einen Band über Heinrich von Kleist und die Moderne herausgegeben

Von Swati AcharyaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swati Acharya

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von den Kleistexperten Bernd Fischer und Tim Mehigan herausgegebene Band „Heinrich von Kleist and Modernity“ versucht, in zwei nach den Genre-Begriffen „Theater“ und „Erzählungen/Essays“ aufgeteilten Kapiteln mit 17 Aufsätzen, die aus Vorträgen bei einem Symposion in Otago, Neuseeland von 2010 hervorgegangen sind, der Frage nachzugehen, wieso Kleist auch 200 Jahre nach seinem Tod noch wichtig und relevant ist.

Die Herausgeber fügen den Begriff der „Moderne“ als ein allgegenwärtiges Merkmal im Schaffen Kleists ein, und dabei sind sie auf ein terrain gestoßen, das eine „inklusive“ Diskussion über Veränderung als Fortschritt, Perspektivenpluralität als Norm und Auseinandersetzung mit Gegensätzen als Realitätsbestandaufnahme nur fördern kann.

Das Besondere an dem Band ist die Nebeneinanderstellung von deutsch- und englischsprachigen Beiträgen. Die Autoren sind Germanisten aus Deutschland und aus anglophonen Ländern (den USA, aus England, Neuseeland und Südafrika). Die Herausgeber sind sich darin einig, dass Kleists Themenauswahl mit seinem Schwerpunkt auf Gender, Klassenkonflikten, ethnische Kämpfen, Terrorismus et cetera eine unmittelbare Verbindung zu unserer Zeit hat. Aber der eigentliche Leitfaden, der auch von den einzelnen Beitragenden aufgegriffen wird, ist das Problem des homo politicus, was als paradigmatisches Merkmal der Moderne zu bezeichnen ist. Für eine eingehende Analyse dieses Problems und seiner Verbindung mit Kleist, auch im Sinne der Argumentation von Hannah Arendt, bietet dieser Band einen guten Überblick.

Wichtig ist dabei die Konkretisierung des Begriffs der Moderne. Sie wird hier nicht als etwas aus dem Absoluten Herleitbares verstanden, sondern eher als ein Denken, das aus Beschränkungen entsteht. Kein einziges ethisch-philosophisches System kann ihr die nötige Legitimität verleihen.

Der Band widmet sich in erster Linie dem dramatischen und erzählerischen Werk Kleists. Der erste Teil hat 10 Beiträge zu den Dramen und ist damit auf die Dramatiker-Persönlichkeit des Klassikers fokussiert. Die Dramen „Der zerbrochne Krug“ und „Prinz Friedrich von Homburg“ bleiben die Favoriten. So ein Band hätte vielleicht auch stärker andere, nicht oft besprochene Dramen zur Diskussion stellen können, könnte man einwenden. Der zweite Teil konzentriert sich hingegen auf das Erzählwerk Kleists.

Der besondere Verdienst des Sammelbandes ist jedoch die Diversität der Einstellungen beziehungsweise der Schwerpunkte. Ricarda Schmidt setzt sich mit der „Penthesilea“ Rezeption aus einer Genderperspektive auseinander. David Chisholm zeigt, wie rhythmische Spannungen in Kleists Dramen auch auf erhöhte dramatische Spannungen hindeuten, indem er die rhythmische Struktur von Kleists „Blank-Versen“ mit der von Goethes Blank-Vers-Dramen „Iphigenie“ und „Tasso“ vergleicht. Die vieldimensionale Persönlichkeit von Kleist kann auch ein zwingender Ansporn sein, Germanisten zu mathematischen Analysen ermutigen. Wolf Kittlers Artikel „Falling after the Fall: The Analysis of the Infinite in Kleists Marionette Theater“ bietet so einen mathematischen Ansatz. Die von Paul de Man problematisierte Kontroverse um die mathematische Außerordentlichkeit bei Kleist stellt Kittler auf den Kopf und grenzt sich von de Man sehr scharf ab. Kittlers Schlussfolgerung bringt es wieder auf den eigentlich geisteswissenschaftlichen Punkt:

„Remembering that the centre of gravity is an intersection of lines in a coordinate system, we see what Kleist means when he refers to lines that travel through infinity only to return at the opposite end of the coordinate system. The loss of grace after the fall has sent body and soul away from intersecting in one and the same centre, the centre of gravity. But after having gone through infinity, they are on their way back to the point where they started […]. This point is not hard to find even after the fall, because it is the point that rules falling in the real, the physical world, both before and after the fall”. So lässt Kittler Kleist als glaubwürdigen Mathematiker wieder auferstehen.

Insgesamt wird der Band  von philosophischen Fragestellungen bestimmt. Die Herausgeber nehmen die Zusammensetzung der Essays zum Anlass, die diversen Auseinandersetzungspunkte zwischen Kleist und Kant fortzuführen. Ihr zentrales Anliegen ist, Kleist im neuen Fokus der Moderne zu schildern, was am Anschaulichsten in dem Beitrag von Bernhard Greiner (Zu Ende schreiben: Ultimative Strategien im Schaffen Kleists) dargestellt wird.

Greiner geht dem Konzept beziehungsweise dem Kult des Neuen im Schaffen Kleists nach. Er distanziert sich vom Konzept des Neuen als absolute Innovation, als creatio ex nihilo im Sinne Immanuel Kants, wie dieser es im Geniekapital seiner „Kritik der Urteilskraft“ entwirft. Greiner führt das ‚Zu Ende Schreiben‘ von Motiven (des Sündenfalls oder der Geburt eines Heilsbringers), Diskursen (der Grazie), Mythen (Penthesilea), von ästhetisch-poetischen Konzeptionen (etwa de[ine]s Erhabenen in der Kunst) oder Gattungen (der Tragödie) als „Ultmative Kleistsche Strategie“ ein. Seine Erklärung dieses Konzepts des ‚etwas zu Ende schreiben‘ stellt die zeitlichen sowie die methodischen Aspekte in Frage. Seine Besprechung von Kleists Erstlingsdrama „Die Familie Schroffenstein“ im Zusammenhang mit Platons Höhlengleichnis als Bestimmung des menschlichen Weges zur Erkenntnis ist exemplarisch aufgebaut. Gerade die Möglichkeit des „Neuanfangs“ macht Heinrich von Kleist dennoch zu einem herausragenden modernen Autor. Das Drama „Die Familie Schroffenstein“ beschäftigt auch Nancy Nobile, die sich auf die Hauptfigur Ottokars konzentriert. Sie bezeichnet Kleists Ästhetik als „proto-modern“.

Es ist hier nicht möglich, auf jeden einzelnen Artikel einzugehen. Aber einige Beiträge verdienen eine besondere Erwähnung. Der alle Essays bestimmende Leitfaden bleibt die aktuelle Relevanz von Kleists Gedanken und Themen: Das unterstreicht auch Dorothea von Mücke in ihrem Aufsatz zum „Zerbrochnen Krug“. Ihre Behandlung der historischen Bezüge sowie der meta-historischen Deutungsmittel macht die Lektüre dieses Artikels besonders empfehlenswert, auch als ein Beispiel der wissenschaftlichen Textanalyse. Sie hebt die Interpretation der Veränderung in erster Linie als Fortschritt hervor und lehnt den „Zerbrochnen Krug“ als Allegorie der legitimen beziehungsweise illegitimen Machttradition ab. Im Gegensatz dazu weist sie auf die Sinnlosigkeit solcher moralisierenden Traditionen hin. Ihr Ansatz unterminiert die wechselseitige Interdependenz des Ganzen mit dem Einzelnen und erhellt die Plurizentralität der gesellschaftlichen Ordnung. Dies versteht sie auch als Kommentar zur Beziehung zwischen Kunst und Geschichte.

Eine ausführliche Diskussion über den „Zerbrochnen Krug“ aus unterschiedlichen Perspektiven wie Gender, Machtdiskursen, rechtlichen Argumentationen uund so weiter machen auch die Beiträge von Seán Allan und Christian Moser besonders lesens- und empfehlenswert. Kurz: Dieser Band mag bei manchen noch Appetit auf mehr, und vor allem auf mehr interdisziplinäre Einsichten zu Kleists Werk erwecken. Was dem Band jedoch fehlt, ist eine Zusammenfassung, die ihn mit einigen pointierten Schlussbemerkungen zu seinem logischen Ziel geführt hätte.

Titelbild

Tim Mehigan / Bernd E. Fischer (Hg.): Heinrich von Kleist and Modernity.
Camden House, Rochester 2011.
305 Seiten, 69,99 EUR.
ISBN-13: 9781571135063

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