Gegenwirklichkeit

Ulf Abrahams Einführung in die Literarische Fantastik richtet sich an Schule und Hochschule

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Literarische Fantastik erscheint seit einiger Zeit vor allem in einer Gestalt: der des Vampirs. Dass sie weit mehr Unholde, Holde und andere Fantasien entsprungene Wesen umfasst, zeigt schon ein oberflächlicher Blick in die Vielfalt ihrer Genres. Denn sie erschöpft sich keineswegs in Horrorgeschichten. Und sie ist auch mehr als Fantasy. Science Fiction und Utopien sind ihr ebenso zuzurechnen wie Märchen und Sagen – sowie mancher Roman, der in keines dieser Genre passen mag. Es sei nur an Franz Kafkas „Verwandlung“ oder an „Die Rättin“ von Günter Grass erinnert. Die Reihe einschlägiger Werke aus der neueren, älteren und allerältesten Literaturgeschichte ließe sich geradezu beliebig fortsetzen.

Einen historischen Abriss der Literarischen Fantastik bietet seit kurzem Ulf Abraham in einer für Schule und Hochschule gedachten Einführung. Absicht des Buches ist es, „Erkenntnisse aus der teilweise hochspezialisierten Fachliteratur in ihrer Brauchbarkeit für Schule und Literaturunterricht zu bewerten, mit didaktischen Überlegungen auf dem Feld der Literatur zu verbinden und deutlich zu machen, dass und warum die Fantastik auf dem Feld der Literatur und ihrer Medien keineswegs ein Nischenphänomen für bestimmte Lesergruppen ist.“

Mit der letzten Bemerkung wendet sich der Autor zweifellos gegen die von ihm nicht nur den an Universitäten und Schulen tätigen Lehrkräften unterstellte Geringschätzung der Fantastik. So beklagt er ganz allgemein die vermeintlich „hartnäckige Abwertung der Fantastik in der Kulturgeschichte“, die Abraham zufolge eher psychologisch als kulturwissenschaftlich zu erklären sei. Tatsächlich kann jedoch von einer kulturwissenschaftlichen Geringschätzung der Fantastik keine Rede sein. Es sei nur an die „Ilias“ und den „Mitsommernachtstraum“ – oder auf dem Gebiet der bildenden Kunst an die kanonischen Werke des Symbolismus und des Surrealismus gedacht. Am Ende seines Buches präzisiert er seinen Abwertungsvorwurf denn auch, indem er ihn namentlich gegenüber der „Lehrerausbildung“ im „Unterrichtsfach Deutsch“ erhebt und das „Studium der Literatur(geschichte)“ weitgehend freispricht.

Abraham legt seiner Einführung einen Fantastik-Begriff zu Grunde, der sie als „das ‚Gegenwirkliche‘“ bestimmt. Dieses Gegenwirkliche „kombiniert Elemente der alltäglichen Wirklichkeit, verdichtet sie, schiebt sie übereinander“. Fünf ihrer ,Merkmale‘ sind ihm wichtig genug, sie kurz zu darzulegen: „Stofflichkeit und narrative Struktur“. „Unschlüssigkeit“, „Fremdheit“, Ordnungsbruch und Subversivität“ sowie „Wiederkehr des Verdrängten“.

Dem Titel zufolge widmet sich das vorliegende Buch zwar der „Fantastik in Literatur und Film“, tatsächlich aber beschränkt es sich weitgehend auf die Darstellung der Fantastik am Beispiel einer Reihe meist prominenter einschlägiger Werke der „abendländischen Literatur“. Sie hebt mit Hesiod und Homer an und geht etwa auf den „Artus-Stoff“, Schillers „Geisterseher“ oder E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ wie auch auf Astrid Lindgrens „Die Brüder Löwenherz“ und J. K. Rowlings „Harry Potter“-Bände ein. Aldous Huxleys „Schöne Neue Welt“, George Orwells „1984“, Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ zählen dem Autor zufolge hingegen zwar zu den klassischen Dystopien, nicht jedoch zur „klassischen Fantastik“, ohne dass er letzteres plausibilisieren würde. Kafkas „Das Schloss“, Grass’ „Die Blechtrommel“ und Patrick Süskinds „Das Parfüm“ gelten ihm als Grenzfälle Literarischer Fantastik.

Abraham untergliedert seine insgesamt solide Einführung in drei größere Abschnitte. Obwohl er betont, „dass es sich um eine Einführung in die Literarische Fantastik handelt und nicht um eine Einführung in deren Theorie“, gilt der erste dieser drei Teile den „Theorie(n) der Literarischen Fantastik“. Im zweiten stellt er die „kulturelle Praxis Literarischer Fantastik“ vor, um sich im dritten, etwas schmäleren, der „Literarischen Fantastik in Schule und Hochschule“ zuzuwenden.

Nicht immer ist Abrahams Lesart der von ihm herangezogenen „Schlüsselwerke“ überzeugend. So deutet nichts darauf hin, dass Marlen Haushofers Werk „Die Wand“ von einem Menschen handelt, der „den Atomkrieg“ oder „einen dritten Weltkrieg mit neuen Waffensystemen überlebt“ hat. Auch ist nicht so recht nachvollziehbar, dass der Roman „Die Wand“ von Marlen Haushofer „den zivilisierten Menschen als klein, blind und eigensinnig in der Schöpfung, in die er sich nicht mehr einordnen kann, seine Ziele verfolgend“, charakterisiere und es aus eben diesem Grunde „nur konsequent“ sei, wenn die Ich-Erzählerin „den offenbar einzigen anderen Überlebenden“ tötet. Dass dieser zuvor seinerseits eines ihrer Nutztiere tötete, sei „nicht mehr als eine oberflächliche Begründung“. Denn „eigentlich widerspricht menschliche Existenz in ihrer früheren Form der Schöpfung“. Die Gender-Dimension der mit dem Tod des Mannes endenden Begegnung zwischen den Geschlechter spielt für Abraham keine Rolle. Doch gerade sie ist für die Interpretation des Geschehens nicht ganz unwesentlich.

Auch sind Abrahams seltene Ausflüge in die Philosophiegeschichte nicht in jedem Fall ganz zuverlässig. So denkt man nicht, wie er meint, schon seit David Hume – also seit der Aufklärung – „über die Fähigkeit des menschlichen Geistes nach“, sondern tatsächlich schon das eine oder andere Jahrtausende länger, wie man sich bei den Vorsokratikern – etwa Heraklit, Empedokles und vor allem Anaxagoras – überzeugen kann.

In einer Einführung zur literarischen Fantastik mag derlei verzeihlich sein. Für die Beurteilung des Buches wichtiger sind die Forderungen, die er abschließend gegenüber „Schule und Lehrer/-innenbildung“ erhebt. Um den „Interessen der Lernenden entgegenkommen“ zu können, sollten die Lehrenden Abraham zufolge über ein „Grundwissen in Bezug auf die Geschichte und Gegenwart er Literarischen Fantastik einschließlich einer Vorstellung davon, wie sie die abendländische Kultur- und Literaturgeschichte insgesamt mitgeprägt hat“, verfügen. Das sollten sie wahrhaftig. Und zwar nicht nur, um den Interessen der Lernenden entgegenkommen zu können.

Titelbild

Ulf Abraham: Fantastik in Literatur und Film. Eine Einführung für Schule und Hochschule.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2012.
256 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503137152

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