Richard Wagner als utopischer Anarchist

Wolf-Daniel Hartwich über deutsche Mythologie in der Oper des 19. Jahrhunderts

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Deutsche Mythologie" meint eine literarische bzw. wissenschaftliche Erfindung, die als religionsgeschichtliche Erscheinung nie existiert hat, wie Hartwich gleich zu Beginn seines Buchs betont. Es ist das Projekt einiger Intellektueller seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, welche versuchten, die Fragmente skandinavischer Göttermythen, die Heldensagen der Völkerwanderungszeit, die Erzählungen der höfischen Epik, die Rechtsbücher des germanischen Mittelalters sowie Märchen und volkstümliche Bräuche in einer Erzählung vom Ursprung des Deutschen zu sammeln. Sie zielten auf die Schaffung eines nationalen Selbstbewußtseins in Deutschland, was nach Lage der damaligen Dinge ohne Rekurs auf sonst häufig identifikationstiftende Faktoren wie territoriale Einheit, gemeinsame politische Institutionen oder ein einigendes religiöses Bekenntnis geschehen musste. Virulent wurde dieses Projekt erst nach den sogenannten Befreiungskriegen Anfang des 19. Jahrhunderts. Das aufklärerische Interesse an germanischen und nordischen "Alterthümern" war durchaus noch von einem kosmopolitischen bzw. interkulturellen Ethos geprägt, während es nach 1813 dezidiert um die Erfindung einer "nationalen Kunstreligion" ging.

1813 ist nicht nur das Jahr der Leipziger Völkerschlacht, die das Ende der napoleonischen Hegemonie einläutete, sondern auch das Geburtsjahr Richard Wagners, der dieser nationalen Kunstreligion wie kein anderer huldigte und der - nicht nur deswegen, aber nicht zuletzt deswegen - in seinen späten Jahren als bedeutendster deutscher Künstler überhaupt galt. Wagners (opern-) literarisches Werk steht denn auch im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs. Hartwichs doppeltes Ziel ist es einerseits, Wagners Version der "Deutschen Mythologie" vom Schutt einer mißverstehenden Rezeptionsgeschichte zu befreien; andererseits diese Version geistesgeschichtlich zu fundieren. Zu diesem Zweck bettet er seine faszinierende und in Hinsicht auf das zentrale Thema überzeugende Lektüre von Wagners Texten in eine weiter gespannte Erzählung ein, in der er von den Voraussetzungen und einigen Varianten und Folgen von Wagners Aktualisierung der "Deutschen Mythologie" berichtet.

Was die Folgen oder die gleichzeitigen Varianten angeht, ist Hartwichs Erzählung eher schwach zu nennen. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind nur auf wenige und, wie mir scheint, nicht repräsentative Lesefrüchte gegründet. An diesem Punkt ist das Buch nicht zu Ende geschrieben, vielleicht nicht einmal zu Ende gedacht.

Ganz anders dagegen seine Rekonstruktion der Voraussetzungen von Wagners mythografischen Musikdramen. Mag auch Hartwichs Herleitung der Beschäftigung mit einer "Deutschen Mythologie" aus den Bemühungen Klopstocks, Herders und Schlegels, das Interesse an den mythologischen Überlieferungen des germanischen "Alterthums" zu wecken, in der Relation etwas zu lang geraten sein - man verzeiht es ihm gern, weil er konzentriert zu schreiben weiß und auf den Punkt hin erzählen kann. Langweilig ist seine Vorgeschichte nicht. Richtig spannend wird es, wenn er die Bemühungen Jacob Grimms und Karl Simrocks um die germanischen Mythen analysiert. Grimms "Deutsche Mythologie" von 1835 und merkwürdigerweise Simrocks erst 1855 erschienenes "Handbuch der Deutschen Mythologie mit Einschluß der nordischen "nennt Hartwig als die wichtigsten Bezugspunkte für Wagners Arbeit am deutschen Mythos.

Grimm hatte laut Hartwich im wesentlichen ein antiquarisches Interesse an der nordischen Mythologie, deren Wahrheit er im lebendigen Volksglauben weiterleben sah; Simrock hingegen suchte in den gleichnishaft aufgefassten Erzählungen nach überzeitlichen Wahrheiten, die er mittels Verwandlung des Kultus in Wissenschaft für die Gegenwart nutzbar zu machen versuchte.

Beide rezipierte Wagner und versuchte aus den unterschiedlichen Zugriffsweisen von Grimm und Simrock so etwas wie eine rückbezügliche Kunstreligion mit utopischem Potenzial zu schmieden. Und wie man bei Hartwich lesen kann, gelang ihm dies weitgehend. Man glaubt es, wenn man Hartwichs interessiert zugespitzten Inhaltsangaben von Wagners Stücken liest (deren Lektüre - nebenbei gesagt - ein Genuss ist). Man glaubt es nicht immer, wenn man die, von Hartwich als irrelevant weil mißverstehend eingeschätzte, Rezeptionsgeschichte kennt. Die Rezeption hat niemals ganz Unrecht; sie stützt sich immer auf Anhaltspunkte bei den Autoren selbst. In Wagners Fall sind diese nicht einmal so schwer zu finden. Hatte er nicht immer gegen die Degeneration der angeblich gänzlich semitisierten romanischsprachigen Welt polemisiert und dagegen die Chance einer Wiedergeburt der Kultur aus germanischem Geist propagiert?

Indessen ist zu bedenken, dass der 'problematische' Wagner deutlich nur in seinen sonstigen Schriften und Briefen aufzufinden ist und nicht in seinen Musikdramen. Diese transportieren alle noch etwas von dem revolutionären Geist, der Wagner 1848 auf die Barrikade gehen ließ. Wagner verleugnete nie seine Ansicht, dass die Verhältnisse andere werden müssen, wenn sie besser werden sollen. Zwar wandte er sich nach seiner konservativen Wende gegen alle sozialen und demokratischen Reformversuche (deren Durchsetzung er als "bloß politisch formelle Auffassung der Revolution" denunzierte), doch er erklärte sich mit dem status quo nie einverstanden. Die gescheiterte Revolution von 1848 soll im eschatologisch zugespitzen Mythos utopisch aufgehoben werden. Hartwich schlägt vor, Wagners Anarchismus als treibende Kraft einer "ganz anderen Vision und Interpretation des Germanischen" zu verstehen, nämlich als Vision einer befreiten Menschheit.

Wagners Dramen ausschließlich als Vorzeichen einer bessern Zukunft zu lesen, heißt aber, sie unstatthaft und unnötig zu vereindeutigen. Mich wundert, dass Hartwich nicht seinen stärksten Kronzeugen zitiert hat, den Sozialisten August Bebel: "Welche Neugeburt die Kunst erfahren wird, wenn einmal menschenwürdige Zustände existieren, ahnte kein geringerer als der verstorbene Richard Wagner." Aber Wagners Versuch, die Aporien der Moderne irrationalistisch zu hintergehen, um auf dem Rückumweg über eine Kunst, die selbst zu einer neuen Mythologie werden sollte, die Zukunft zu gewinnen, war ohne weiteres einer politisch reaktionären Lesart zugänglich. So Unrecht hatten die Nazis auch wieder nicht, Wagner postum dienstzuverpflichten. Davon aber will Hartwich nichts wissen.

Titelbild

Wolf-Daniel Hartwich: Deutsche Mythologie. Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion.
Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2000.
217 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3825700836

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