Von Zeitgeschichte(n) und Kontroversen

„Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert“ – eine Festschrift für den österreichischen Historiker Gerhard Botz stellt geschichtswissenschaftliche Perspektiven und Methoden vor

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die (bundes-)deutsche Geschichtswissenschaft war in den vergangenen Jahrzehnten von einer Vielzahl methodischer Debatten und Umbrüche gekennzeichnet. In den 1970er-Jahren begann die „Historische Sozialwissenschaft“, geprägt durch Wissenschaftler wie Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, ihren Aufstieg. Später waren es dann kulturwissenschaftliche Ansätze, die bis heute prägend sind. Auch für Österreich lassen sich ähnliche Entwicklungen feststellen. Zu deren maßgeblichen Protagonisten gehörte (und gehört bis heute) der überwiegend in Salzburg und Wien tätige Gerhard Botz. Dessen 70. Geburtstag im vergangenen Jahr haben Weggefährten und Schüler genutzt, um dem Jubilar eine umfangreiche Festschrift zu widmen. Auf fast 800 Seiten versammelt der Band nicht nur ein beeindruckendes Panorama der Vielfalt des Gefeierten. Er bietet aus dem Blickwinkel der Vertreter einer „Historischen Sozialwissenschaft“ zugleich eine Einführung in die thematische und methodische Entwicklung der österreichischen Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit bis heute.

Die breite Orientierung von Botz’ Tätigkeit zeigt sich bereits in seiner Ausbildung – neben Geografie und eben Geschichte gehörten nach 1959 auch Biologie und Filmgestaltung zu seinen Studienfächern. Die Promotion erfolgte 1967 am Wiener Institut für Zeitgeschichte zur „Geschichte der politischen Gewalttaten in Österreich 1918-1933“ – einem Thema also, auf das mit dem Titel der Festschrift zurückverwiesen wird. Nach mehr als zehnjähriger wissenschaftlicher Assistenz in Linz habilitierte sich Botz dort 1978 mit einer Arbeit zur nationalsozialistischen Machtübernahme in Wien. Unter dem Titel „Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39“ wurde die voluminöse Studie zuletzt 2008 in überarbeiteter Form wiederveröffentlicht. Nach der Habilitation 1978 folgte eine kurzzeitige außerordentliche Professur in Linz, bis er von 1980 bis 1997 als Zeithistoriker in Salzburg wirkte. Nach mehreren Gastdozenturen etwa in Stanford und Paris kehrte Botz als Professor zurück ans Wiener Institut für Zeitgeschichte, dem er bis zu seiner Emeritierung treu blieb. Ab 1982 fungierte er außerdem als Gründer und Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts (LBI) für Historische Sozialwissenschaft (Salzburg/Wien).

Die wissenschaftliche Bedeutung des Jubilars wird auch an den Autoren der 50 Beiträge deutlich, die aus den verschiedensten Disziplinen stammen – hier versammeln sich alte österreichische Weggefährten und Zeitgenossen wie Ernst Hanisch, Josef Ehmer und Wolfgang Neugebauer (nicht zu verwechseln mit dem Berliner Preußen-Forscher), wichtige Protagonisten der älteren (bundes-)deutschen Zeitgeschichtsschreibung wie Hans Mommsen und Alexander von Plato, Vertreter einer jüngerer Historikergeneration in Österreich wie Dirk Rupnow sowie international renommierte Wissenschaftler außerhalb der deutschsprachigen Forschung wie Ian Kershaw und António Costa Pinto. Die Aufsätze sind in sieben thematische Blöcke gegliedert, wobei sich der Haupttitel „Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert“ nur in drei dieser Blöcke explizit widerspiegelt. Der Untertitel „Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen“ fasst den Inhalt des Bandes eigentlich besser zusammen. Der Charakter der einzelnen Beiträge ist recht unterschiedlich – manche sind essayistisch-knapp gehalten, andere kommen mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat daher.

Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf der Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus in Österreich, der drei Abschnitte gewidmet sind. Neben seinen bereits genannten eigenen Forschungsarbeiten war es vor allem ein von Botz 1994 mitherausgegebener Sammelband zur „Waldheim-Affäre“ und dem Zustand der österreichischen Zeitgeschichtsschreibung („Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker“), der auf diesen Feld Maßstäbe setzte. Erst kürzlich (2008) ist er erweitert neu aufgelegt worden – ein weiteres Indiz für die anhaltende Relevanz der behandelten Fragen. Von den zahlreichen Beiträgen zu diesem Thema sei der von Tim Kirk, Europahistoriker an der Universität Newcastle, herausgegriffen. Er resümiert unterschiedliche Ansätze in der Forschung zur Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes, etwa das momentan stark diskutierte Konzept der „Volksgemeinschaft“ und betont eher dessen Grenzen. Interessant sind hier auch die begrifflichen Unterschiede in deutscher und anglo-amerikanischer Geschichtswissenschaft: Während erstere überwiegend an der Eigenbezeichnung „Nationalsozialismus“ festhält, verwendet letztere das dem Widerstand entlehnte „Nazismus“ – ein Umstand, auf den später im Band auch der Innsbrucker Zeithistoriker Dirk Rupnow hinweist.

Zwei weitere Abschnitte befassen sich mit methodischen Fragen der Geschichtswissenschaft. Hier wird unter anderem ein Blick auf innovative Ansätze der vergangenen Jahrzehnte geworfen, die „Oral History“ etwa oder das komplexe Geflecht von „Gedächtnis und Erinnerung“, das geschichtswissenschaftliche Debatten heute sehr stark prägt. Dirk Rupnow setzt die deutschsprachige Zeitgeschichtsschreibung zum Zweiten Weltkrieg und zum NS-Regime ins Verhältnis zum anglo-amerikanischen Ansatz der „Holocaust Studies“. Letzterer würde einen analytischen Zusammenhalt zwischen der Betrachtung des Holocaust selbst und den daran geknüpften Erinnerungen generieren – zwei Forschungsfeldern, die im deutschsprachigen Raum häufig kaum in Austausch miteinander stehen. Eine besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von Josef Ehmer, Wirtschafts- und Sozialhistoriker in Wien, der gemeinsamen mit anderen einleitenden Aufsätzen den thematischen Blöcken vorangestellt ist. Er widmet sich dem Verhältnis von Zeitgeschichtsschreibung und Sozialwissenschaften und greift die vom Trierer Historiker Lutz Raphael formulierte These der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ im 20. Jahrhundert auf. Als ein besonders produktives interdisziplinäres Forschungsfeld habe sich auf dieser Grundlage die Wissenschaftsgeschichte erwiesen, da die Sozialwissenschaften selbst zu „sozialen Akteuren“ geworden sind, die „Problemzonen definieren, staatlich-politisches Handeln konzipieren und soziale Praxis legitimieren“.

Ein „Spezialgebiet“ von Botz wird im abschließenden Abschnitt thematisiert – das Engagement von Historikern in der (politischen) Öffentlichkeit. In Deutschland war es der „Historikerstreit“ von 1986, der als Paradebeispiel für solche Debatten gelten kann. In Österreich ist hier die bereits kurz angesprochene „Waldheim-Affäre“ zu nennen, die ebenfalls in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre ausbrach und die vermutete Verstrickung des ehemaligen UN-Generalsekretärs und Kandidaten für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim diskutierte. Lucile Dreidemy, Assistentin in Ausbildung am Wiener Institut für Zeitgeschichte, betrachtet auf diesem Hintergrund einige neuere Interventionen von Botz zur Wertung des österreichischen Bundeskanzlers von 1932 bis 1934, Engelbert Dollfuß. Dabei wird unter anderem deutlich, dass Zeithistoriker etwa in Zeitungsbeiträgen (wenn auch unfreiwillig) oft jene wissenschaftliche Glaubwürdigkeit missen lassen, die sie auf ihrem angestammten Terrain auszeichnet. Die Gefahren von Verkürzungen und Vereinfachungen sind hier ungleich höher als im Diskurs unter Experten.

Abgerundet wird der – mit einem Verkaufspreis von knapp 50 Euro für seinen Umfang vergleichsweise günstige – Band mit einer Laudatio auf Gerhard Botz anlässlich des Festaktes zu seinem Geburtstag, einem „Bildessay“ sowie besonders einer ausführlichen, 22 Seiten umfassenden Auswahlbibliografie des Geehrten und einem Personen- und Ortsregister. Eine Festschrift ist er tatsächlich, im besten Sinn – eine, die die Schwerpunkte einer bedeutenden Forscherpersönlichkeit deutlich hervortreten lässt, und die darüber hinaus als eine Einführung in methodische und inhaltliche Debatten (nicht nur) der österreichischen Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg dienen kann.

Titelbild

Regina Fritz / Heinrich Berger / Melanie Dejnega / Alexander Prenninger (Hg.): Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz.
Böhlau Verlag, Wien 2011.
773 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783205787259

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