Luther twitterte anders

Über Marcus Sandls Studie „Medialität und Ereignis“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eines sei vorweggeschickt: Auf knapp 600 Seiten eine „Zeitgeschichte der Reformation“ anzukündigen respektive zu veröffentlichen ist ein kühnes Unterfangen – zumindest dann, wenn ein Anspruch auf Vollständigkeit dieser Zeitgeschichte erhoben würde. Für eine solche würden vermutlich mehrere Regalmeter kaum ausreichen. Bereits auf dem Umschlag von Marcus Sandls Studie „Medialität und Ereignis“ wird allerdings die sinnvolle Beschränkung auf den medialen Aspekt dieser „Zeitgeschichte“ angesprochen, die sich „quer zu den gängigen reformationsgeschichtlichen Erzählungen“ erstreckt. Und mit dieser Einschränkung – oder sagen wir besser zielführenden Präzisierung – lässt sich das vorliegende Buch auch als ein erfrischender Beitrag zu einer historischen und geistesgeschichtlichen Epoche lesen, über die in der Tat schon ‚alles‘, aber offenbar eben doch noch nicht ‚alles‘ gesagt beziehungsweise geschrieben wurde.

Die Konzentration auf diesen gewissermaßen ‚medialen‘ Blick auf die Veränderungen, die sich während, aber auch bereits vor der mitteldeutschen Reformation Bahn brachen, scheint mir überdies auch eine Längsverbindung, nämlich die in unser gegenwärtig ‚mediales Zeitalter‘ zu ermöglichen – und anhand profunder Quellenkenntnis und -darlegung zu beweisen, dass es funktionierende Medien und eine mediale Öffentlichkeit bereits lange vor Twitter und Facebook gegeben hat. Und womöglich ist diese Erkenntnis gerade für die junge Erwachsenen-Generation, die in das Umfeld der entsprechenden technologisch geprägten Informations- und Kommunikationsstrukturen hineingeboren wurde, nicht einmal die geringste.

Die Verwendung von zeitgemäße Formulierungen wie etwa der ‚Historizität der Erinnerung‘ oder der ‚Reflexivität des Historischen‘, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ‚Zeitgeschichte der Reformation‘ keines der einfach zu konsumierenden ‚zeitgeistigen‘ Bücher ist, die der Leserschaft das (Mit-)Denken abnehmen, sondern die Lektüre bei aller Eingängigkeit des Stils ein hohes Maß an Konzentration erfordert. Marcus Sandl beschränkt sich eben nicht nur auf die Metaebene einer an technologischer und medienpsychologischer Sichtweise orientierten Darstellung, sondern unterfüttert seine Thesen immer wieder mit originalen Textstellen, anhand derer er eben auch die Geistesgeschichte – und das ist im Fall der Reformation natürlich in erster Linie theologisches Denken und Kirchengeschichte – einbindet, um so einen tieferen, gewissermaßen verinnerlichten Zugang zu ermöglichen.

So lassen sich anhand solcher Originalstellen etliche Gedanken- und Argumentationsgänge Martin Luthers recht deutlich nachvollziehen, die Leserinnen und Leser werden, um einen begriff aus der Lernpädagogik zu verwenden, ‚mitgenommen‘ und damit wird ein deutlich direkterer Zugang zu den aus heutiger Sicht nicht immer unmittelbar einsichtigen Ideen und Neuerungen ermöglicht, aus denen dann eine zweite Kirche resultierte. Immer wieder jedoch wird der Blick auch auf das große Ganze gelenkt, indem etwa Exkurse zu mittelalterlicher Frömmigkeit als notwendige Basis der Veränderungen im 16. Jahrhundert erfolgen. Hier wird auch insofern wieder ein weiterer Blickwinkel nahegelegt, als Querverweise auf die gotische Architektur, die die Ästhetik des Mittelalters in Verbindung zu mittelalterlichen Frömmigkeitsformen aufzeigen, deren „Äußerlichkeit“ wiederum Stein des Anstoßes für verschiedene reformatorische Bewegungen insbesondere der Frühen Neuzeit war.

Diese Gegenüberstellung – oder vielleicht besser ausgedrückt – Verschränkung von ‚Äußerlichkeit‘ und Innerlichkeit erscheint mir als ein besonders positiver Aspekt des Buches, wobei die ‚innerlichen‘, also ideengeschichtlichen Ansätze und Verweise naturgemäß noch ein Quantum fesselnder sind. So werden etwa unter der zunächst recht trocken anmutenden Abschnittsüberschrift „Reformatorisches Subjekt, ‚Referenz, Evidenz – Theologie und Geschichte von Beobachtungsverhältnissen‘“ wesentliche Entwicklungen der reformatorischen Veränderungen, der Ideen Luthers und der Disputationsgeschichte dargestellt und in einen gewissermaßen lebendigen Kontext gestellt.

Diese Kontextualisierung im weitesten Sinne wird auch in den folgenden Abschnitten ins Zentrum gestellt, wenn Sandl aufzeigt, in welchem Maße sich die unmittelbaren reformatorischen Gedanken und Lehransätze (weiter-)entwickelt haben und er die entsprechenden komplexen Vorgänge auch in der unmittelbar nachreformatorischen Zeit verfolgt, die dann schließlich in das Zeitalter der konfessionell begründeten Auseinandersetzungen auch kriegerischer Art führen sollte.

Grundsätzlich ist die vorliegende Publikation eine spannende Lektüre. Und der sprachliche Duktus des Verfassers ist jedoch wie gesagt nicht immer unbedingt leicht nachzuvollziehen. So heißt es etwa hinsichtlich der geistesgeschichtlichen Veränderungen und Entwicklungen, die vornehmlich durch die mitteldeutsche Reformation angestoßen wurden: „Die Redeweisen der Zeitenwende veränderten jedoch zunächst die gesamte diskursive und mediale Konfiguration […]. Stellte sich die Wirksamkeit der nun verzeitlichten Wahrheit nämlich nicht mehr auf der Ebene des jeweiligen Geschehens ein, so musste auch das Verhältnis von Subjekt und Welt in neuer Weise definiert werden. Die Wahrheit wurde nun zum Effekt im Subjekt selbst, sofern sich dieses im Modus seines Wahrseins und Wahrwerdens reflektierte und als wahres aussagte.“ Ob einer solchen – oder vergleichbaren – Passage alle folgen können, sei dahingestellt; dies soll den Lesens-Wert dieser „Zeitgeschichte der Reformation“ jedoch keineswegs schmälern.

Um ein abschließendes Urteil zu fällen: Das Buch sei insbesondere allen ans Herz gelegt, die sich intensiver mit Theologie und Kirchengeschichte befassen, aber auch denjenigen, die sich über Fragen der allgemeinen Geschichtsforschung, insbesondere aber auch hinsichtlich des Aspekts der Ideen- und Mediengeschichte für die Umbruchsphase der Reformation und die daran anschließenden Entwicklungen interessieren. Ohne eine gewisse theologische beziehungsweise auch philosophische Vorbildung – und natürlich auch die Bereitschaft, sich wirklich auf die Lektüre einzulassen – ist das Werk sicherlich nur bedingt verständlich oder anders formuliert nicht instant-reading-tauglich, bietet dafür andererseits eben auch Zugangswege, die ansonsten eher ungewohnt sind und gerade auch durch die Notwendigkeit einer gewissen Anstrengung einen Lese-Gewinn versprechen.

Titelbild

Marcus Sandl: Medialität und Ereignis. Eine Zeitgeschichte der Reformation.
Chronos Verlag, Zürich 2010.
600 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783034010184

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