Panorama der Zeiten und Träume

Alexander Braun zeigt den frühen Comic-Künstler Winsor McCay in historischen Kontexten

Von Sigrun GalterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrun Galter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Oh! If I could only get an idea!“ So stöhnt ein inspirationsloser Comiczeichner in Winsor McCays Strip „Dream of the Rarebit Fiend“ vom 6. Juli 1911. Und siehe da: Es erscheint tatsächlich eine Idee auf seinem Schreibtisch! Und zwar in Form eines kleinen zerzausten Wesens. Bevor der Verzweifelte ihn festhalten kann, ist der Einfall allerdings ebenso schnell verschwunden wie er ihm gekommen ist. – Winsor McCay selbst dürfte sich wohl selten in einer solchen Situationen befunden haben: Trotz vielfältiger Arbeitsbelastungen war er ein ausgesprochen produktiver Zeichner, seine Comicserien sprühen vor ungewöhnlichem Ideenreichtum und faszinieren selbst ein Jahrhundert nach ihrem Entstehen.

Diesem Comic-Meister der ersten Stunde hat Alexander Braun nun sowohl eine Wanderausstellung als auch einen umfassenden Katalog gewidmet, man könnte sagen: eine Monografie im wahrsten Sinne des Wortes. Bibliophil ausgestattet, beeindruckt der Katalog nicht nur durch Reproduktionen seltener Sammlerstücke, originaler Handzeichnungen McCays und zahlreicher historischer Fotografien, durch verspielte Details wie eine als Lesezeichen gestaltete Zeitleiste und durch subtile selbstreferentielle Verweise. Auf annähernd 350 Seiten bietet der Autor aus der Perspektive des Kenners, Sammlers und Wissenschaftlers eine umfassende Einführung in McCays Œuvre und dessen historische Kontextualisierung, wie es sie bisher noch nicht gegeben hat. Nach John Canemakers Werkbiografie von 1987 ein neues Standardwerk zu McCay und zur frühen Comicgeschichte!

Alexander Braun, der auch als bildender Künstler tätig ist, hat nicht nur den Text verfasst, sondern den Katalog auch selbst gestaltet. Das, was Braun an McCays Werken hervorhebt – dass sie ein Panorama historischer Situationen reflektieren und sie optisch eindrucksvoll in Szene setzen – lässt sich durchaus auf den Katalog selbst beziehen. Leidenschaft für den Gegenstand und fundiertes Wissen gehen hier Hand in Hand.

Der Ansatz des Katalogs wird bereits auf den ersten 15 Seiten deutlich. Noch vor dem Titelblatt stehen sich zahlreiche ganzseitige Abbildungen McCay’scher Werke und zeitgenössischer Fotografien und Postkarten gegenüber: die Freiheitstatue, New Yorker Straßenszenen, politische Demonstrationen, Zeitungsjungen, mondäne Damen, Vergnügungsorte und Dinosaurierfunde sind da zu sehen. So wird der Leser des Katalogs zunächst visuell in zentrale Themen und Motive von McCays Œuvre und in ihre Zeitbezüge eingeführt. Beiläufig konturiert sich dabei auch das Bedingungsfeld seiner künstlerischen Produktion: die um 1900 weiter gesteigerte Urbanisierung und der damit einhergehende Aufschwung von Presse und Unterhaltungsindustrie.

Der Katalog zeichnet die Biografie McCays nach, seinen Aufstieg vom einfachen Plakatmaler zum populären Comic-Künstler und gefeierten Illustrator. En passent werden dabei zentrale Fragen nach Inspirationsquellen, seinem Verhältnis zur Traumforschung oder zu technischen Fortschritten in Fotografie und Film erörtert.

Aus einfachen Verhältnissen stammend sollte der 1896 geborene Zenas Winsor McKay zunächst eine kaufmännische Ausbildung absolvieren. Statt dessen nahm er ohne Wissen seiner Eltern Zeichenunterricht und porträtierte Besucher eines Dime Museums in Detroit. Dime Museums – populäre Einrichtungen, die Varieté, Zirkusattraktionen und Kuriositäten boten – sind die Wiege von McCays künstlerischem Schaffen: Sie prägten seine Vorliebe fürs Exotisch-Groteske und für Wahrnehmungsveränderungen, wie er sie in seinen späteren Comics immer wieder durchexerzierte. Einer Ausbildung als Gebrauchsgraphiker folgten Stationen in Chicago und Cincinnati, wo McCay Schilder für Dime Museums malte und später als Zeitungsillustrator arbeitete. Der Umzug nach New York 1903 brachte schließlich den künstlerischen Durchbruch als Comiczeichner. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte McCay mehrere Comicserien wie „Little Sammy Sneeze“, „The Story of Hungry Henrietta“ und „A Pilgrim’s Progress“ – und schließlich seine erfolgreichsten Serien „Dream of the Rarebit Fiend“ (ab 1904) und „Little Nemo in Slumberland“ (ab 1905). McCay bediente damit sowohl den Bereich der schwarz-weißen Daily Strips als auch denjenigen der farbenfrohen, ganzseitigen Sunday Pages. Seine bekanntesten Comicserien kreisen um Alpträume: In immer wieder neuen und verstörenden Formen erkundet McCay darin die Welt existentieller Ängste – tabulos und oft düster im primär für ein erwachsenes Publikum konzipierten „Dream of the Rarebit Fiend“, optisch heiter und verspielt in der Kinderserie „Little Nemo in Slumberland“. In die Geschichte eingegangen sind diese Comics auch für ihre formale Innovativität. McCay experimentierte mit der Formsprache des noch jungen Comics, entwarf unkonventionelle Layouts und spielte nicht selten selbstreflexiv mit den medialen Bedingungen des Comics. Er ließ Panelrahmen einstürzen, Figuren die Buchstaben des Serientitels aufessen oder Protagonisten ihren Zeichner adressieren.

Alexander Braun bietet nicht nur umfangreiches empirisches Material zu diesen Serien, sondern diskutiert auch wichtige Zeitkontexte und Einflüsse, zum Beispiel der Chronofotografie auf die Zeitlupentechnik in „Little Sammy Sneeze“. Dabei räumt er auch mit den Topoi von McCay als frühem psychoanalytischen und proto-surrealistischen Künstler auf. Eine solch differenzierte Einschätzung McCays im Hinblick auf verschiedene Ansätze der Traumforschung und die Psychoanalyse eines Freud oder C. G. Jung war längst überfällig.

McCays Erfolgsgeschichte wäre ohne die um 1900 sprunghaft gestiegene Bedeutung der Presse in den USA und den Konkurrenzkampf zwischen den Zeitungsmagnaten William Randolph Hearst, Joseph Pulitzer und James Gordon Bennett nicht denkbar. Diese warben sich gegenseitig die besten Comic-Zeichner und Illustratoren ab, da die Auflagenzahlen der Zeitungen aufgrund der hohen Immigrationsrate nicht zuletzt von der Attraktivität ihrer Illustrationen abhingen. In diesem Rahmen konnte McCay als Comiczeichner Ruhm und Wohlstand erlangen. Ab 1906 trat er zusätzlich in Unterhaltungstheatern, sogenannten Vaudevilles, als Schnellzeichner auf. Er verblüffte das Publikum in diesen Shows durch seine Fähigkeit, mit wenigen Strichen lebendig wirkende Figuren zu skizzieren – und konsolidierte seine Popularität. Im Vaudeville präsentierte McCay schließlich auch die Ergebnisse seiner filmischen Experimente: 1911 seine erste animierte Sequenz – bestehend aus ungefähr 4000 eigenhändigen Zeichnungen. Die Filmarbeit war McCay Zeit seines Lebens außerordentlich wichtig, er produzierte mehrere Kurzfilme und verstand sich als Erfinder des Animationsfilms – doch konnte sich seine außerordentlich aufwändige Arbeitsweise im Vergleich zu billigeren Produktionsmethoden nicht durchsetzen.

Ungefähr zur gleichen Zeit begann McCay für William Randolph Hearst zu arbeiten (der als Vorbild für Orson Welles’ „Citizen Kane“ diente). Dieser erkannte die Tragweite von McCays Zeichentalent und setzte ihn zunehmend als Illustrator für politische Leitartikel ein. Bisher wurden diese Editorials und politischen Allegorien meist als nebensächlicher Bereich von McCays Schaffen angesehen, von Hearst durch finanziellen Druck erzwungen, gewissermaßen als propagandistischer Missbrauch seiner Zeichenkunst. Es ist eine der Leistung von Brauns Katalog, eine Neubewertung dieser politischen Illustrationen vorzunehmen und sie als eigenständigen Bereich des McCay’schen Werk zu würdigen.

Mahnt Braun im Vorwort des Katalogs an, die Hierarchie von High und Low endlich zugunsten eines unvoreingenommenen Blicks auf Comics aufzubrechen, so kann man sagen: Gewichtiger als mit diesem Katalog ist die Anerkennung des Comics als Kunstform noch nicht postuliert worden!

Titelbild

Alexander Braun: Winsor McCay. Comics, Filme, Träume (1869 - 1934).
Bocola Verlag, Bonn 2012.
349 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783939625407

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch