Von allen guten Geistern verlassen

Über Christine Lehmanns Krimi „Totensteige“

Von Stefan SchweizerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schweizer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laufen Kriminalromanreihen nicht Gefahr, den Leser irgendwann zu langeweilen und sich, nun ja, buchstäblich tot zu laufen? Lisa Nerz’ zehnter Fall zeigt eindrucksvoll, dass besondere Serienfiguren nicht nur durchaus das Potenzial für viele Romanfolgen haben, sondern es außerdem verstehen, sich mit jedem Fall noch zu steigern.

Eine gute Serienfigur sollte einerseits einen hohen Wiedererkennungswert besitzen, andererseits aber auch, um realistisch zu sein, eine gewisse Entwicklung durchlaufen. Christine Lehmanns Figur Lisa Nerz erfüllt beide Anforderungen. Einerseits kann der Leser die Wandlung von Lisa Nerz nachvollziehen: Sie besitzt ein höheres Reflexionspotenzial als in früheren Fällen. So wurde die frühe Lisa Nerz immer gleich handgreiflich oder verstand es nicht, ihre Gedanken für sich zu behalten, auch wenn dies der Situation eher angemessen gewesen wäre. Zugleich ist sie auch in späteren Fällen immer noch impulsiv und lässt sich von ihren Gefühlen treiben. Die Kommissarin von „Totensteige“ hat sich weiterentwickelt und ist reifer geworden, denn sie agiert inzwischen ruhiger und besonnener. Dennoch ist sie unverkennbar gleich geblieben: mutig, direkt, offen, neugierig und unerschrocken.

Mit der reiferen und ruhigeren Lisa Nerz kontrastiert die Wandlung vom Kriminalroman zum Actionthriller, denn mit „Totensteige“ legt Lehmann erstmals einen handlungsreichen Thriller vor. Die Handlung und der Plot von „Totensteige“ sind tatsächlich reich an Schauplätzen (von Stuttgart nach Schottland), und spannender Handlung. Der Krimi ist rasant, fesselnd und packend erzählt, wie dies eben in einem hervorragenden Actionthriller zu sein hat.

Das Thema des neuen Lehmann-Buchs ist dabei hochbrisant und topaktuell: Lisa Nerz stolpert in einen Fall, der sich mit Parapsychologie beschäftigt. Dabei gibt es zahlreiche Highlights. Von besonders hohem Unterhaltungswert ist so zum Beispiel die Szene, in denen hochrangige Vertreter der Staatsanwaltschaft durch eher spaßhaft vollzogenes Gläserrücken Kontakt mit Toten aufzunehmen versuchen, um (juristisch) einen Mordfall aufzuklären. Ist Nerz am Anfang noch launisch und voller Skepsis gegenüber Geisterjägern und übernatürlichen Vorfällen, so sieht sie sich bald mit einem Mord konfrontiert, der auf das Reich des Übersinnlichen verweist.

Der Direktor des parapsychologischen Instituts auf Burg Kalteneck wurde bestialisch ermordet – das herausgeschnittene Herz und die Stellung der Uhrzeiger deuten auf alte Bräuche gegen die Untoten beziehungsweise Vampire in Rumänien hin. Hängt der Mord an dem Parapsychologen mit den Testreihen des Instituts zusammen, welche den Versuch unternehmen, Personen mit übersinnlichen Fähigkeiten zu identifizieren? Versuchen Konzerne oder Militärs diese übernatürlich begabten Personen mit für ihre Zwecke zu instrumentalisieren?

Lisa Nerz sieht sich mit dem altbekannten Staatsanwalt Dr. Richard Weber und der Stellvertreterin des parapsychologischen Instituts, Dr. Derya Barzani, einer Hetzjagd ausgesetzt, die in Holzgerlingen bei Stuttgart beginnt und im düsteren Schottland ihren Höhepunkt findet. Dabei müssen Nerz, Lehmann und Barzagli zahlreiche Abenteuer überstehen, die von übersinnlichen Kräften ausgelöst zu werden scheinen. Computersysteme stürzen unerklärlicherweise ab, Maschinen gewinnen ein Eigenleben.

Abseits des Actionthrillers ist Lehmanns Totensteige eine ernstzunehmende Parabel über die Interaktion von Medien und Politik. Barzaglis Vater ist nämlich einer der mächtigsten Medien-Mogule Deutschlands. Die Medien werden dabei als Spuk, Inszenierung und Manipulation dargestellt. Die Politik steht dabei den Medien hilflos gegenüber.

Köstlich sind die Szenen, in denen Nerz und Weber der Hautevolee der internationalen Politik begegnen. Merkel, Obama, Sarkozy und Berlusconi werden alle treffsicher, ironisch und karikaturenhaft gezeichnet. Erfrischend ist auch, dass dabei keine Alias-Namen verwendet werden, sondern Bundeskanzlerin Merkel eben Merkel heißt.

Lehmann fokussiert zudem zusehends realgeschichtliche Ereignisse. Diese verstärkte Einbindung von sozialgeschichtlichen Implikaten und die Thematisierung der sozialen Realität zeugen auch von zunehmender Reife der Autorin.

Totensteige besitzt aber noch eine tiefere, weitere Dimension. Geradezu mustergültig hat Lehmann zahlreiche Diskurse in ihr Werk eingebunden. So finden sich rekonstruierte Theorien von der Quantenphysik über Fragen der Erkenntnistheorie bis hin zur Telekinese passend in das Romangeschehen integriert.

Einmal mehr bietet Christine Lehmann also Krimiunterhaltung vom feinsten. Totensteige fesselt von der ersten bis zur letzten Seite und wird es dem Leser kaum ermöglichen, längere Lesepausen einzurichten.

Titelbild

Christine Lehmann: Totensteige.
Argument Verlag, Hamburg 2012.
537 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783867541893

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch