Literatur entsteht im Kopf des Lesers

Der Roman „Komm“ von Janne Teller konfrontiert den Leser mit spektakulären Perspektivwechseln

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Janne Teller, 1964 in Kopenhagen geboren, hat sich nach fast einem Jahrzehnt als Beraterin für die EU und die UNO 1995 ganz dem Schreiben gewidmet. Und ihre Bücher provozieren durch die Thematik und den Stil. In „Odins Insel“ entsteht ein Plädoyer für den Frieden im Stile einer nordischen Saga, in „Krieg. Stell dir vor er wäre hier“ werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt, man flüchtet aus Europa in den sicheren Nahen Osten, „Europa – Alles was dir fehlt“ ist eine tragische Liebesgeschichte während des Bosnienkriegs und dann das Jugendbuch „Nichts. Was im Leben wichtig ist“, das weltweit Aufsehen erregte und in Deutschland 150. 000-mal verkauft wurde. Teller versteht es, etwas in den Köpfen zu bewegen, versucht Einstellungen durch neue Perspektiven aufzubrechen und zu verändern – auch in ihrem neuen Roman „Komm“.

Die Handlung des Werkes spielt zumeist im Kopf des Protagonisten, eines Verlegers. Er sitzt in einer verschneiten Dezembernacht am Schreibtisch, verfasst einen Vortrag über Ethik in der Verlags- und Literaturbranche, den er am Folgetag auf einer Konferenz halten soll und schweift dabei mit seinen Gedanken ab. Das Manuskript einer vermeintlich gestohlenen Geschichte von der Ermordung eines Wachmannes in Morenzao und die Auseinandersetzung mit der bestohlenen Schriftstellerin, Petra Vinter, lassen ihn über Kunst, Verantwortung, Fiktion und Wirklichkeit philosophieren. Seine Schlüsse fließen direkt, Stück für Stück, in den langsam wachsenden Vortragstext ein. Zwischendurch denkt er an seine Frau, die ihn Zuhause erwartet, an frühere Seitensprünge und den Hintergrund von Untreue. Die weibliche Ausstrahlung und anziehende Wirkung von Petra Vinter, mit der er eigentlich nur beruflich zu tun hatte, beschäftigt ihn.

Darf man unerzählte Geschichten stehlen? Wem gehört wann eine Geschichte, eine Idee, ein Ereignis oder ein Satz? Um literarische Kunst zu erzeugen, muss der Schriftsteller, im Gegensatz zum Journalisten, die Wirklichkeit fiktionalisieren, verändern, verzerren. Und, wie verzerrt muss eine Wirklichkeit sein, um Kunst zu werden? In einem Buch sind die in der Wirklichkeit fehlenden Worte ergänzt, der Autor hat das Persönliche universell und zu seiner Geschichte gemacht.

Teller lässt den Verleger über Fragen der Literatur und des Literaturbetriebs philosophieren. Die zentrale Gewissensentscheidung des Verlegers, ob er das fremde Manuskript, das große Teile der Geschichte Petra Vinters erzählt, veröffentlicht, ist mit der philosophischen Frage nach Verantwortung verbunden. Wie viel Verantwortung haben Vermittler von Kunst für deren Inhalte? In Rückblenden wird diese Problematik direkt mit Geschehnissen verbunden, in denen es ihm an Zivilcourage gemangelt hatte. Er versucht die Veröffentlichung des umstrittenen Manuskripts mit marktwirtschaftlichen Gesetzen zu rechtfertigen. Verweist darauf, dass man in einem Verlag nur feststellen muss, ob ein Buch den Erwartungen der Leser entspricht. Was sich am meisten verkauft, ist auch am besten. Und wenn sich aus Bloßstellungen in oder durch Literatur schwerwiegende Folgen ergeben, dann besteht eben genau aus diesen das nächste Buch. Hierbei entsteht nicht selten ein „faustischer Handel“.

In „Komm“ nimmt der Leser am literarischen Schreibprozess teil – und dies in Form einer großartigen, kaum überschaubaren Mischung wechselnder Erzählperspektiven. Es sind Gedanken, die manchmal vom auktorialen Erzähler mit Innensicht zum reißenden Bewusstseinsstrom werden und schließlich vom Protagonisten ausformuliert Redeteile seines Vortrags bilden. Andererseits gibt es auch Dialoge und innere Monologe. In jedem Fall ist das Werk atemraubend dynamisch und überschreitet formale und sprachliche Grenzen gekonnt. Damit hält sich Teller an die durch den Protagonisten benannten ethischen Grundsätze für Literatur: „Wer Kunst schaffen will, muss zuerst die in der Wirklichkeit existierenden Grenzen aufgeben.“

Die fließenden Zeitwechsel und Zeitsprünge, die verschiedenen Bruchstücke, die nur im Falle des entstehenden Vortrags durch Kursivschrift angedeutet werden und die manchmal abrupten Übergänge machen den Text ebenso spannend wie kompliziert. Immer wenn man etwas Neues entdeckt, möchte man das ganze Werk nochmals von Vorne lesen, um es besser zu verstehen. Die stilistische Vielfalt ist an die jeweilige Erzählform angepasst: kurze Sätze in Dialogen, Ellipsen in inneren Monologen oder auch Wiederholungen von Sätzen, Satzteilen oder Wörtern begleiten den kreativen Schaffensprozess des Protagonisten glänzend. Somit erfüllt „Komm“ auch das Kriterium, dass nicht die Idee, sondern ihre Ausführung die Kunst ausmacht.

Die literarische Kunst des Romans liegt nicht in dem hier entstehenden Vortrag, der, fügt man die einzelnen Teile zusammen, durchaus lesens- und diskutierenswert ist. Auch der Fall der gestohlenen Geschichte oder die nachdenkliche Betrachtung des Lebenswandels des Ehemanns allein wäre wenig kunstvoll. Nein, sie entsteht durch das faszinierende Zusammenfügen der Bruchstücke, durch die Abfolge, den Aufbau, die atemraubende Geschwindigkeit der Sprache. Man schaut dem Verleger nicht über die Schulter, sondern in seine Gedanken, nimmt teil an seinem inneren Denkprozess, muss, wie er im Buch, manchmal zurückblättern, um zu verstehen. Er korrigiert, löscht, philosophiert vor den Augen des Lesers. Der vorliegende Roman wird vermutlich kein großes, aber unbedingt ein begeistertes Lesepublikum finden, denn: „Wir brauchen die Kunst, um Mensch sein zu können.“

Titelbild

Janne Teller: Komm. Roman.
Übersetzt aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
158 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446237568

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