Auf dem Exerzierfeld

Die Edition der Notizbücher Bertolt Brechts hat begonnen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Brecht-Philologie gehen die Aufgaben nicht aus. Nach der neuen Brechtausgabe, der voluminösen Brecht-Chronik und dem fünfbändigen Brecht-Handbuch waren schon die frühen Werke aus der Brecht-Fabrik einen eigenen Band wert. Nun kommt die nächste Ecke dran, in der die Editoren fegen dürfen. Und dieses Mal sind es die Brecht-Notizbücher, ergänzt um Adressbücher und Einzelblätter, die in 14 Bänden ediert werden sollen. Der erste Band ist soeben erschienen. Er enthält die Notizbücher 1 bis 3, die in den Jahren 1918 bis 1920 beschrieben worden sind: Handliche Büchlein, in denen Brecht vor allem Entwürfe von Texten notierte, wenige Alltagsnotizen ausgenommen.

Einen gewissen Bekanntheitsgrad hat dabei das älteste der Notizbücher, das als „Lieder zur Klampfe von Bert Brecht und seinen Freunden 1918“ in der Forschung als einer der Vorläufer der „Hauspostille“ genannt wird. Hier notierte Brecht neben Liedtexten auch Noten, nach denen zu singen war. Die Notizbücher umfassen nur wenige Blätter, 25 das erste, 16 das zweite und immerhin 50 das dritte, insgesamt umfasst das Konvolut also 182 Seiten, die auf knapp 500 großformatigen Druckseiten präsentiert werden, von denen etwa 300 Seiten dem Abdruck und der Transkription gewidmet sind (unbeschriebene Blätter wurden für die Edition ausgelassen).

Die beiden Herausgeber, Martin Kölbel und Peter Villwock sind im Auftrag des Instituts für Textkritik und der Akademie der Künste zu Berlin unterwegs gewesen, was die editorischen Prinzipien, denen sie folgen, erklärt. Denn die Akademie kennt zwar viele Editoren und editorische Prinzipien, und das in der Akademie angesiedelte Berliner Brecht-Archiv ist vor allem eine notwendige und kaum zu vernachlässigende Adresse, wenn es um das harte Brot der Brecht-Edition geht. Im Hause Staengle und Reuß aber gibt es eine klare und durchweg verfolgte Linie, die alle Editionen des Hauses kennzeichnet. Dass nun auch das Haus Suhrkamp auf die Linie der Heidelberger Aufsteiger einschwenkt, zeigt von dem Erfolg des Konzeptes, von dem in seinen Anfängen wenig zu spüren war und das sich von den Mühen des Anfangs anscheinend weit entfernt hat. Denn wer erinnert sich noch daran, wie schwer sich Reuß und Staengle seinerzeit taten, sich gegen die etablierten Editoren durchzusetzen, denen zwar viel öffentliche Gelder zur Verfügung standen, mit denen sie aber immer wieder allzu sorglos umgingen. Kleist, Kafka, und das beim Verlag Stroemfeld / Roter Stern – wer erinnert sich noch an die Anfänge der beiden, die heute wohl die einflussreichsten Editoren in der deutschen Philologie sind. Ihr „Institut für Textkritik“ scheint etabliert zu sein, Roland Reuß hat es zum Professor gebracht, zu einer vielgehörten Stimme im FAZ-Feuilleton und zu einem der Hüter des Urheberrechts, was ihm allemal gegönnt sei. Nun also Brecht.

Wie es sich gehört wird jede Seite der Notizbücher (wohlgemerkt, bis auf die leeren) fein säuberlich faksimiliert, wenngleich nur in Schwarzweiß wiedergegeben (in der Elektronischen Edition der Bände – vulgo: im eBook, erhältlich auf der Suhrkamp-Seite sollen die Seiten farbig abgebildet, die Materialien ergänzt sein). Auf der jeweilig gegenüberliegenden Seite folgt eine präzise Transkription, die sich die Aufgabe stellt, nur ja keinen möglichen Strich von irgendeiner Hand zu vergessen. Überschreibungen, Korrekturen, Streichungen, Einfügungen – alles soll so genau wie möglich wiedergegeben sein. Dass die Editoren den Notizbüchern vorsichtshalber den Text-Charakter absprechen, hat vor allem damit zu tun. Dass sie zugleich die Transkription schwach, den Abdruck der Notizbuchseiten als eigentliche Referenz bestärken, hat vielleicht mit der vermeintlichen Nähe zum Autor zu tun, wenn nicht anderes hier eine Rolle spielt: die Aufwertung des Orginals etwa. Für Normalgermanisten wird die Transkription reichen.

Aber man ist ja auch dankbar für die akribische Umsetzung: Schon allein die zu Beginn verwandte Sütterlinschrift des jungen Brecht macht es heutigen Lesern nicht leicht, dem Original zu folgen. Das Brecht-Archiv hat denn wohl auch schon zuvor eine provisorische Transkription anfertigen lassen, mit der die Nutzung der Originalnotizbücher ein wenig eingedämmt werden konnte. Nun liegen die Notizbücher, lässt man ihre haptische und taktile Seite beiseite, einem breiten Publikum vor, das damit seine Brecht-Beschäftigung auch auf Vorläufiges und Unabgeschlossenes ausweiten kann, ohne dass den Archivaren ihr Archivgut abhanden käme. Wenn man sich überlegt, dass manch andere Archivalie immer noch von Hand zu Hand wandert, ohne dass sich jemand darum kümmert?

Die Notizbücher nehmen im Kosmos der Brecht’schen Literaturproduktion einen spezifischen Platz ein. Hier probiert sich Brecht aus, hier notiert er Entwürfe, die teilweise blind enden, hier schreibt er Ideen und Konzepte nieder, die später auszuweiten waren (auch wenn das nicht immer geschehen ist). Die Notizbücher verweisen dabei auf eine ganze Reihe von anderen Produktionsstätten und Produktionen, wofür die Editoren das schöne Bild von der „Netzstruktur von Brechts Produktion“ gefunden haben. Entsprechend breit angelegt sind denn auch die Erläuterungen des Bandes, die immerhin knapp 100 Druckseiten des Bandes einnehmen. Hier verweisen die Herausgeber auf solche Texte, in denen Brecht seine Notizen wiederverwendet hat, „Baal“, „Trommeln in der Nacht“ und die „Hauspostille“ nehmen hierbei einen vornehmen Platz ein. Biografisches findet gleichfalls seinen Raum neben den üblichen kulturhistorischen Verweisen.

Die Motive und Bilder, die Tonlage und der spezifische Umgang Brechts mit dem, was man Literatur nennt, lassen sich auch in diesen Notizen finden. Brecht ist auch hier grob, vulgär und großkotzig, wie man ihn kennt und schätzt, ein Mann, der die große Geste mit Bravour einübte und zu nutzen wusste.

Die Nähe der Notizbücher zum Werk findet in den Erläuterungen ihren Widerhall. Brecht ist schon hier ein guter Stichwort- und Sentenzengeber, die gelegentlich an den Mann oder die Frau zu bringen sind: „Gegen die Korrektur eines Stückes ist der Staatskonkurs die reinste Hochzeitsnacht!“ Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das auf die Causa Griechenland angewandt wird.

Kölbel und Villwock haben das Werk und die Zeugnisse zum Leben und Werk Brechts umfangreich ausgewertet und aus den Erläuterungen heraus ein dichtes Bündel an Verweisen vorgelegt. Dem zu folgen – in welche Richtung auch immer – ist die Aufgabe der Nutzer dieses Bandes und der folgenden Bände. Dass dabei auch das eine oder andere Amüsante unterläuft, bleibt nicht aus, wie dieses Beispiel deutscher Erläuterungskunst zeigt: „Die Annahme, daß sich in der Samenblase (Bläschendrüse, Vesicula seminalis) Spermien ansammeln und aufstauen, ist heute wissenschaftlich überholt.“ Der Kommentar betrifft diese Notiz Brechts: „Im Zustand der gefüllten Samenblase sieht der Mann in jedem Weib Aphrodite. / Geh. R. Kraus“.

Da bleibt einem nur ein verblüfftes „Aha“, angesichts von so viel Wissenschaft. Und nebenbei, der Verweis auf Karl Kraus wird gleich ausgeschlossen. Stattdessen halten die Herausgeber eine Goethe-Paraphrase für möglich. Ein weiteres „Aha“ wäre also angebracht.

Aber zu Spott gibt es keinen Anlass, denn vor allem die zahlreichen Verweise auf das Gesamtwerk Brechts lassen erahnen, dass die Notizbücher eine wichtige Funktion im Produktionsprozess Brechts hatten.

Das wissen die Herausgeber durch einige Beigaben noch zu verstärken: Eine Transkription der Tagebücher Caspar Nehers aus den Jahren 1917 bis 1920 und der Aufzeichnungen Hanns Otto Münsterers der Jahre 1917 bis 1919 – beide waren frühe Weggefährten Brechts – vertiefen das breit verfügbare Wissen um den historischen Brecht und sein Umfeld. Ein Werkregister sowie Register zu Institutionen, Personen und deren Werke machen auch die zielgenaue Erschließung der Notizbücher möglich.

Die intensive Arbeit lässt sich also dem Band ansehen, aber dennoch ist sie damit nicht abgeschlossen. Dass man jedoch immer mehr machen kann, ist dabei kein Argument gegen das vorliegende Konvolut. Dennoch gibt es Merkwürdigkeiten: Die Erläuterungen zum „Sentimentalen Lied No 1004“, das – leicht geändert – unter dem Titel „Erinnerung an die Marie A.“ einigermaßen berühmt geworden ist, zeigt das. Zwar verweisen die Herausgeber auf andere Texte, in denen Motive wie Wolken oder Pflaumen wieder verwendet werden. Sie weisen auch darauf hin, dass die „weisse Wolke“ in „Baal“ als Kosename für eine der Figuren verwandt wird. Sie knüpfen sogar „inhaltliche“ und „atmosphärische“ Verbindungen zu anderen Texten, Jan Knopfs Analyse des Textes, in der nicht zuletzt ein Schlager der Jahrhundertwende als Vorbild des Textes benannt wird, findet aber keine Erwähnung. Dies wäre allerdings auch dann sinnvoll gewesen, wenn Knopf mit seiner Vermutung falsch gelegen hätte, mindestens um den Irrtum aus der Welt zu schaffen. Den Aufsatz aber ganz zu verschweigen? Bleibt also die Frage, ob solche Ausblendungen strategisch motiviert sind oder zufällig. Das wird man sehen, wenn die weiteren Bände folgen. Bis dahin lassen wir es Zufall sein.

Titelbild

Bertolt Brecht: Notizbücher. 1918-1920.
Hrsg. von Martin Kölbel und Peter Villwock.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
480 Seiten, 32,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422991

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