Die Netzhaut als Zeuge

Moderner Mythos „Optogramm“: Bernd Stiegler über „Belichtete Augen“ in Kriminalistik, Wissenschaft und Kunst

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1927 fand man in Essex die Leiche des Police Constable George Gutteridge. Ungewöhnlicherweise waren bei ihr beide Augäpfel herausgeschossen worden. Wie sich später herausstellte, hatten Gutteridges Mörder  – wie viele ihrer Zeitgenossen – angenommen, dass sich auf der Netzhaut eines Mordopfers „der letzte Blick“ dauerhaft einprägen konnte. Mit der Verstümmelung der Leiche wollten die Täter somit eine Spur vernichten, die, wie sie glaubten, zu ihnen geführt hätte.

Ihre beiden nachträglichen Schüsse gingen aber, wie man kalauern könnte, nach hinten los. Denn in einem der ersten ballistischen Verfahren lieferten gerade die Kugeln jene Indizien, die zur Verurteilung führen sollten, fand man doch im Auto von William Kennedy und Frederick Browne die passenden Patronenhülsen. Für Bernd Stiegler bezeugt diese ironische Pointe, dass das „Optogramm“, das letzte Bild auf der Netzhaut eines Toten, kriminalistisch bedeutungslos blieb – so verbreitet der Glaube an das „Versprechen der Retina“ zeitweilig auch war, gerade in der Zeit um 1900, als Entdeckungen wie die Momentfotografie oder Röntgenstrahlen die Einbildungskraft der Menschen erhitzten.

Zwar gab es tatsächlich Mordopfer, bei denen verzweifelte Kriminalisten auch die Netzhäute fotografieren ließen; die wohl berühmtesten waren 1888 Annie Chapman und Mary Kelly, beides Opfer von Jack the Ripper. Doch habe es keinen einzigen Fall gegeben, in dem die fotografierte Retina eines Mordopfers zur Verurteilung eines Mörders führte, betont der Konstanzer Literaturwissenschaftler. Auch der Fall des Amokläufers Fritz Angerstein war keine Ausnahme, vielmehr wurde Angerstein wie Kennedy und Browne ein „Opfer“ dieses modernen Mythos: Angerstein, der am 1. Dezember 1924 acht Menschen ermordete, gestand erst, als ihn der Staatsanwalt im Verhör glauben ließ, er sei längst überführt, da er auf den Netzhäuten seiner Opfer als Täter deutlich zu erkennen sei – ein wirkungsvoller Bluff, wie sich zeigte.

Die Erzeugung von Optogrammen ist jedoch nur im Labor möglich, wie 1974 von Heidelberger Medizinern nachgewiesen wurde. So können erst extreme Beleuchtungsverhältnisse den sich normalerweise rasch abbauenden Sehpurpur nachhaltig bleichen. In Stieglers anregend zu lesender Studie geht es daher auch nicht um die angeblich „echten“ Optogramme des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts – von denen sich erstaunlicherweise in den meisten Fällen ohnehin nur mehr oder weniger fantasievolle Nachzeichnungen von unscharfen Schachbrettmustern oder Fensterrahmen erhalten haben. Sondern um die sie begleitenden Vorstellungen, Theorien und Praktiken in Kriminalistik und Wissenschaft seit den ersten Zeitungsmeldungen über Optogramme um 1860. Beeinträchtigt wird das Lesevergnügen allerdings von Stieglers stilistischer Redundanz, seiner Neigung, seine Thesen wieder und wieder zu paraphrasieren – ein strengeres Lektorat wäre hier ein Segen gewesen.

Von dem Konstanzer Literaturwissenschaftler sind bereits mehrere Veröffentlichungen zur Theorie und Geschichte der Fotografie erschienen, und auch die Geschichte der Optografie ist ohne die Erfindung der Fotografie nicht denkbar. Nicht nur, dass man im 19. Jahrhundert begann, das Auge mit einer Kamera zu vergleichen und das Gedächtnis als eine Art Fotoalbum, und dass Optogramme selbst erst dadurch produziert wurden, indem man die herausgetrennte, fixierte Netzhaut fotografierte. Nach der verheißungsvollen Entdeckung des schon erwähnten Rhodopsins, des „Sehpurpus“, im Jahr 1877 durch Franz Boll und Wilhelm Kühne, stellte sich die Wissenschaft das Auge sogar als regelreches Fotolabor vor, wie Stiegler zeigt.

Tausende von Labortieren ließ Kühne sterben um die Fotochemie der Netzhaut zu erforschen und um Optogramme zu erhalten. Dass Kühnes Assistent den Kaninchen vor ihrem Ende ausgerechnet ein Porträt des großen Physiologen Hermann von Helmholtz präsentierte, beweist für Stiegler, dass es dabei nicht zuletzt um einen Forschungsstreit um die richtige Wahrnehmungstheorie ging: Kühne glaubte als traditioneller Physiologe, die Außenwelt werde einfach ins Subjekt projiziert, während Helmholtz eine modernere Theorie der Repräsentation vertrat – ein Optogramm seiner selbst hätte ihn von Kühnes Position überzeugen sollen, so Stiegler. Nach 1925 wanderten Optogramme in Kunst, Literatur und Film; man findet sie bei Jules Verne und H. P. Lovecraft, in Hollywoodstreifen wie „The Invisible Ray“ mit Bela Lugosi und Boris Karloff oder heute in den Werken des englischen Gegenwartskünstlers Derek Ogbourne. Wie heißt es in James Joyce’ „Ulysses“? „Des Mörders Bild im Auge des Opfers. Sowas lesen sie liebend gern.“

Titelbild

Bernd Stiegler: Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
250 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783100755506

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