Wer ist die schönste im ganzen Band?

Drei Liebesgeschichten von Tschingis Aitmatow

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich liebte Dshamilja heiß, und auch sie hatte mich lieb." Sechzehn Jahre alt ist der Junge, und er liebt die Frau seines älteren Stiefbruders. Sie ist ihm Mutter, Schwester und Geliebte zugleich. Die "schönste Liebesgeschichte der Welt", wie Louis Aragon "Dshamilja" etwas übertrieben genannt hat, ist eine latente Inzestphantasie, wie sie im Lehrbuch steht. Das Begehren des Jungen stößt kaum auf Hindernisse. Der Bruder ist im Krieg. Und der Vater wird angesichts der Dominanz der Mutter derart in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben, daß er so gut wie abwesend ist.

Der Junge ist auf alle Männer eifersüchtig, die Dshamilja begehren, und das sind viele. Warum verschwindet die Eifersucht auf den, den Dshamilja dann wirklich liebt? Der melancholische Außenseiter Danijar, der zunächst gänzlich unattraktive und sozial verachtete Kriegsverletzte, entpuppt sich als genialer Künstler. Das ist ein großartiges Angebot an alle Lesenden und Kunstliebhaber, wenigstens in der Phantasie für alle erlittenen Kränkungen des Selbstwertgefühls entschädigt zu werden. Die hohe Kunst von Danijars Gesang ist so überwältigend, daß sie nicht nur die Liebe der Frau zu entfesseln vermag, sondern bei dem Jungen alle niedrigen Gefühle der Eifersucht zum Schweigen bringt. Wenigstens in der Identifikation mit Danijar erfüllen sich seine Wünsche. Der Junge wird selbst zum Künstler, indem er die Liebenden malt.

Die Leselust partizipiert an der erzählten Liebeslust in vielfach gebrochener Vermittlung. Der Junge wird zum Voyeur. Er schaut den Liebenden heimlich zu, er malt sie, er erzählt später davon. Und wir wiederum hören ihm, dem Ich-Erzähler der Geschichte, gleichsam zu. Zur erzählten Leidenschaft hält uns der Autor so auf Distanz. Wir haben an ihr teil, doch genießen wir die Geschichte des Ehebruchs ebenso unschuldig wie der Junge. Man weiß nicht, was größer war beim Schreiben oder auch beim Lesen dieser Geschichte: die Kräfte des Begehrens oder die der Sublimierung. Beide jedenfalls haben dazu beigetragen, daß diese Geschichte zu einem Welterfolg wurde.

Aitmatov hatte "Dshamilja" zum Abschluß seiner Ausbildung am Gorki-Literaturinstitut vorgelegt, zusammen mit "Aug in Auge". Neben diesen beiden steht eine dritte in dem auch in seiner Aufmachung wunderbaren Band "Liebesgeschichten". Sie heißt "Du meine Pappel im roten Kopftuch". Es ist vielleicht die schönste Erzählung in dem ganzen Band. Auch hier entwickelt die Liebe eine alle Fesseln der Tradition sprengende Kraft. Wer "Dshamilja" schon hat, kann diese Geschichte auch gesondert als Taschenbuch bekommen.

Titelbild

Tschingis Aitmatow: Du meine Pappel im roten Kopftuch. Aus dem Russischen von Juri Elperin.
Unionsverlag, Zürich 1986.
154 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3293200060

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Titelbild

Tschingis Aitmatow: Liebesgeschichten. Aus dem Russischen von Hartmut Herboth und Juri Elperin.
Unionsverlag, Zürich 1998.
287 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3293002552

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