Ein Plädoyer für das ‚Recht auf Fremdheit‘

Zum Roman „Die undankbare Fremde“ von Irena Brežná

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise



Der Roman „Die undankbare Fremde“ der deutsch-schweizerischen Autorin tschechoslowakischer Herkunft Irena Brežná weist höchste gesellschaftliche Aktualität, thematische Dichte und ästhetische Qualität auf, so dass er seinen Platz auf dem Literaturmarkt unschwer finden wird. Bei aller Betonung der Rolle, die dem Roman in der Schweizer Integrationsdebatte zukommen wird, sollte jedoch sein literarischer Anspruch nicht aus dem Auge verloren werden. Neben dem Tabubruch – sich als Migrantin über die Aufnahmegesellschaft kritisch zu äußern –, neben den fokussierten Themen Meinungsfreiheit, Kapitalismus versus Sozialismus, latente Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, die zweifelsohne wichtige Aspekte in diesem Roman sind, darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um einen Roman handelt. Seine Erzählstruktur, Figurenkonstellation und vor allem die Sprache sind ebenfalls nicht nur wichtig, sondern entscheidend für das Verständnis der inhaltlichen Ebene.

Diese scheint zunächst nicht primär zu sein, denn erzählt wird „nur“ in Fragmenten von Fällen, die die Ich-Erzählerin dolmetschen muss. Sie heben sich im Buch ab, da sie kursiv abgedruckt sind. Das Verbindende dieser Fälle ist, dass es sich um Fremde handelt, die keine Sprache, aber viele Probleme haben. Und doch: in diesem Buch ist alles primär. Die Autorin überlässt nichts dem Zufall. Selbst die Umschlagsgestaltung ist neben dem Titel programmatisch: Eine Frauengestalt balanciert auf einer gespannten Lichterkette. Wenn die im Hintergrund abgebildeten Stromkabeln als Lebenswege zu deuten wären, so hat sie sich für einen besseren, beleuchteten entschieden. Ein Bein hält sie viel zu hoch in der Luft, steht auf Zehen eines Fußes unglaublich gerade und benutzt einen geöffneten Regenschirm als Balancierstange. Während man einige Details ihres Kleides erkennen kann, ist ihr Gesicht, ihr Körper schwarz. Diese Seiltänzerin kann im Kontext des Romans als die Fremde schlechthin verstanden werden: bis zur Perfektion dressiert, ihres eigenen Ichs entledigt, führt sie die beigebrachte Übung bravourös vor. Der Schirm scheint sie dabei zu beschützen, einen imaginären Schutzraum zu schaffen.

Aus eigenem Land auszubrechen und in ein anderes hineinzugeraten, heißt fremd zu werden. Wenn man fremd ist, ist man ausgeliefert, in erster Linie den Beamten. Diese sind mit der Macht ausgestattet, die Fremden als defizitär abzustempeln. Mit der herablassenden Bemerkung „Diesen Firlefanz brauchen Sie hier nicht.“ passte der Hauptmann etwa den slowakischen Namen der Ich-Erzählerin an. Diese Begradigung erlebt sie als Verstümmelung: „Er strich auch meine runde, weibliche Endung, gab mir den Familiennamen des Vaters und des Bruders. Diese saßen stumm da und ließen meine Verstümmelung geschehen. Was sollte ich mit dem kahlen, männlichen Namen anfangen? Ich fror.“

Die Begegnung mit der Fremde hinterlässt Spuren, die sich im Körper und in der Seele der Ich-Erzählerin einkerben. Als sie erkennt, dass der „mitleidvolle Blick“ der hageren Frau, wohl der Hausmeisterin im Flüchtlingslager, ihr galt, erlebt sie es als körperliche Verletzung: „Ich tastete meinen Körper ab, er war noch ganz. Da spürte ich, wie meine Seele auf dem Weg zum Flüchtlingslager hinkte. Sie war lahm.“ Der Körper wird zum zentralen Aspekt dieses Romans, zur Folie, auf die die Erlebnisse und Erfahrungen in der Fremde projiziert werden. Es geht nicht um Körper als Metapher, sondern um konkrete, alltägliche Erfahrungen des Körperverlustes, denen die Fremden ausgeliefert sind: „Sie müssen zuerst einen Pass beantragen, um mit der Hand über eine Wange streichen zu dürfen.“ Die Fremden sind in diesem Roman kranke, verfallende, misshandelte, missbrauchte, „so oft zwangsberührte“, selbstverstümmelte, geschundene Körper: „Körper, den er der Droge schenkt, damit sie ihn vernichtet“, „unscharfe Körperformen“, hölzerne Körper, „Körper per se“, gespannter Körper, „als wollte er unsichtbare Seile sprengen“, „der abgenagte Körper“, Körper, „als wäre er ein geliehenes Kleid“.

Die Krankheit verleiht dem Körper die Stimme, die zur neuen Sprache wird, zur Sprache des Schmerzes: „Wenn die Patientin etwas von ihrem Körper wahrnimmt, dann nur Schmerz.“ Die Krankheit wird zur treuen Begleiterin in der Fremde. Es kommt zum „Bürgerkrieg im Körperland“: Missbildungen, Autismus, Behinderungen, Psoriasis, Tuberkulose, Hepatitis C, Übergewicht und immer wieder Seelenkrankheiten. Selbst die im neuen Land geborenen Kinder der Fremden bleiben nicht verschont: „Die Tochter vermag die Welt nicht als die Weite zu sehen, sie wurde in der Enge der Angst ausgetragen. Sie hat einen engen Blick auf die Welt.“ Die Krankheit kann in Brežnás Roman als Implosion gedeutet werden, die Fremden werden zu einer „implodierte[n] Minderheit“ (Chiellino). Dies äußert sich in der Gewalt ihren eigenen Kindern gegenüber, wie der Dialog zwischen der Mutter eines autistischen Mädchens und der Ärztin illustriert: „‚Wir sind streng, wir schlagen sie. Das beruhigt sie.‘ ‚Weil es Körpersprache ist’, erklärt die Ärztin.‘“

Mit dem Entgleiten des Körpers geht der Verlust der Sprache einher: „Körper und Sprache. Ein Liebespaar, das täglich ermordet wird.“ Die Sprache und der Körper sind untrennbar. Die Sprache hat ihre eigene Physiognomie: „Ich sehe an der Beschaffenheit des Mundes, von welchen Lautkombinationen er geformt worden ist.“ Julia Kristeva, eine aus Bulgarien stammende und auf Französisch schreibende Literaturhistorikerin und Philosophin, schildert in ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“, wie schockierend die Entdeckung der neuen Sprache als eigene Körperlichkeit erlebt wird.

Selbst wenn man die neue Sprache einwandfrei spricht, verrät der Akzent, dass man in dieser Sprache fremd ist: „Wer nicht nach Dialekt roch, blieb ein fremder Fötzel.“ Im Unterschied zu ihrer Freundin Mara entscheidet sich die Ich-Erzählerin gegen den Dialekt und wählt bewusst ihre Fremdheit, ihre Nicht-Zugehörigkeit. „Ich wollte die Schriftsprache, sie roch nach nichts, ein leeres, weiß getünchtes, mehrstöckiges Haus, mit geräumigen Zimmern und hohen Decken.“ Die Schriftsprache wird in diesem Satz deutlich genug so dargestellt, dass man erkennen kann: ihr Vorteil gegenüber dem Dialekt besteht darin, dass sie kein kulturelles Gedächtnis besitzt. Sie gibt der Ich-Erzählerin nicht nur den Freiraum, sondern in erster Linie den Schutz, der für sie als Dolmetscherin unverzichtbar ist. Durch die Schriftsprache wird die Distanz zwischen der Ich-Erählerin und den Schweizern geschaffen, die sie braucht, um sich mit ihnen nicht identifizieren zu können und sich so beim Dolmetschen auf der inhaltlichen Ebene gegen die stummen Vorwürfe der Fremden ungreifbar zu machen. Sie ist zwar gegen sie ungreifbar, aber mit ihnen verbunden, denn „Nicht die Sprache verbindet, sondern ihr Inhalt.“

Die Perspektive der Dolmetscherin ist nicht nur tragend in der Erzählstruktur des Romans, sondern ein in der interkulturellen Literatur verbreitetes Motiv – exemplarisch sei hier etwa auf Yoko Tawadas „Das Bad“ verwiesen. Die sukzessive Thematisierung des Dolmetscherberufes scheint in Brežnás Roman allerdings in dieser Art erstmalig zu sein. Dass die Ich-Erzäherin ihren Beruf als „Tilgung der eigenen Persönlichkeit“ erlebt, kann so gedeutet werden, dass sie in der ständigen Konfrontation der Sprachen feststellt, dass ihr eigenes kulturelles Gedächtnis in der Muttersprache liegt, während sich in der erlernten Schriftsprache der Fremde eine Lücke auftut. Um diese zu schließen, muss sie das kulturelle Gedächtnis in die neue Schriftsprache hinübertragen. Um dies umzusetzen, wird die Ich-Erzählerin gespalten in das kleine Mädchen und die Dolmetscherin. Während das kleine Mädchen für das kulturelle Gedächtnis in der Muttersprache steht, symbolisiert die Dolmetscherin das Hinübertragen des Gedächtnisses in die neue Sprache. Umzusetzen schafft es aber erst die Autorin, Irena Brežná, indem sie ihren Roman schreibt. In der deutschen Sprache des Romans konsolidiert sie sich, indem sie das kleine Mädchen gleich am Anfang des Romans Deutsch sprechen lässt. Nicht umsonst sagte Brežná in einem Interview, dass sie mit diesem Buch ihren eigenen Anfang verarbeiten wollte.

Gelungen ist der Autorin viel mehr. Als Schriftstellerin hat sie eine dialogische Sprache geschaffen, die sich durch eine anspruchsvolle Ästhetik kennzeichnet. Als Psychologin erkennt Brežná, dass die geforderte Anpassung zu einem Korsett wird, das krank macht. Als Migrantin fordert sie einen respektvollen Umgang mit der Fremdheit, sie fordert die Fremden auf, ihre Andersartigkeit nicht als Mangel, sondern eine Bereicherung aufzufassen, und legt den Alteingesessenen nahe, dies im eigenen Interesse zu erkennen. Die „Hackordnung“ kann in der Realität nicht länger bestehen: „Ich heiße Emigrazia. Meine Heimat ist Ausländerin. Von hier lasse ich mich nicht mehr emigrieren.“

Titelbild

Irena Brezna: Die undankbare Fremde. Roman.
Galiani Verlag, Köln 2012.
140 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783869710525

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