Visionär des Volkskrieges und Offizier in zwei Armeen

Carl Alexander Krethlow beschreibt das Leben eines höchst untypischen preußischen Offiziers, der sich über den modernen Krieg keine Illusionen machte und ihn trotzdem herbeisehnte

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war einer der prominentesten Militärs im Kaiserreich und erreichte kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges sogar den Rang eines Generalfeldmarschalls. Doch rechte Freude konnte Colmar Freiherr v. d. Goltz darüber nicht empfinden, war ihm diese Beförderung doch nur für ein erfolgreiches Manöver und nicht für eine siegreiche Schlacht im Stile von Sedan (1870) zuteil geworden. Zeit seines Lebens träumte der fraglos befähigte Offizier aus verarmtem ostpreußischen Adel von einem hohen Truppenkommando in einem großen Krieg der europäischen Mächte, den er wie viele seiner Standesgenossen als unausweichlich ansah. Auf den Spuren seines großen Vorbildes Helmuth v. Moltke betätigte er sich nicht nur als überaus produktiver Militärschriftsteller, sondern begab sich auch für insgesamt zwölf Jahre in die Dienste des Sultans von Konstantinopel. Ob dies der wohlüberlegte Karriereschritt eines ambitionierten Generalstäblers war oder mehr die Flucht vor den zahlreichen Anfeindungen, denen sich der junge Autor der einflussreichen Schrift „Das Volk in Waffen“ ausgesetzt sah, lässt sein Biograf Carl Alexander Krethlow allerdings offen. Der in Bern lehrende Historiker zeichnet ein ambivalentes Bild dieses Offiziers zweier so höchst verschiedener Armeen. Dem Wilhelminismus mit seiner prahlerischen Attitüde lehnte v. d. Goltz innerlich ab, doch den auch in großbürgerlichen Kreisen schnell an Einfluss gewinnenden Bellizismus vertrat er vehement in vielen seiner Aufsätze und Denkschriften. Der mit seiner Brille wie ein Gelehrter wirkende Militär vermied allerdings im Ausland den typischen Standesdünkel oder das auftrumpfende Nationalpathos der meisten seiner Landsleute. Beim amerikanischen Botschafter in Konstantinopel, Henry Morgenthau, entschuldigte sich der 72-jährige Feldmarschall sogar für sein Erscheinen in einer ordensgeschmückten Prachtuniform mit dem Hinweis, er käme direkt von einer Audienz beim Sultan. Als einem der wenigen deutschen Militärs am Bosporus gelang ihm der emotionale Zugang zu vielen Offizieren und selbst zu den einfachen Soldaten der osmanischen Armee. Die kulturellen Besonderheiten des erodierenden multiethnischen Staates akzeptierte er dort, wo sie aus seiner Sicht militärischen Erfordernissen nicht widersprachen und bemühte sich ansonsten mit einem für Wilhelminer unüblichen Takt und mehr noch mit Beharrlichkeit auf die notwendigen Änderungen in Führung, Bewaffnung und Ausbildung hinzuwirken.

Als Lehrer und Leiter der türkischen Kriegsschule in den 1880er-Jahren prägte v.d. Goltz sogar eine ganze Generation ehrgeiziger osmanischer Offiziere, wobei ihm die rasche Beherrschung der türkischen Sprache – keineswegs selbstverständlich für deutsche Instruktionsoffiziere am Bosporus – eine wertvolle Hilfe war. Die gewöhnlichen Türken, denen er auf seinen ausgedehnten Erkundungsreisen in Anatolien begegnete, beurteilte er unabhängig von deren maroder Führungsschicht als ausdauernde, bedürfnislose und lernfähige Soldaten. Wie mit vielen seiner Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen sollte er auch hierin Recht behalten. Tatsächlich erlebte das türkische Volk in den 1920er-Jahren unter einem starken neuen Führer wie Mustafa Kemal Atatürk die erhoffte und vielfach nicht mehr für möglich gehaltene Renaissance. Auch sein wiederholter Rat an den Sultan, den zukünftigen türkischen Staat unter „islamitischen“ Vorzeichen ideologisch neu auszurichten, sich von dem ohnehin unhaltbaren europäischen Restbesitz zu lösen und stattdessen einen Schulterschluss mit den arabischen Völkern zu suchen, scheint sich inzwischen unter Racip Erdogan und dessen APK zu realisieren, wenn auch mit langer Verspätung. Mit geradezu verblüffender Treffsicherheit prognostizierte v. d. Goltz auch den Ausgang des Burenkrieges zugunsten der materiell überlegenen Briten. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen überraschte ihn auch die vollständige Niederlage Russlands gegen Japan nur sechs Jahre später kaum. Geradezu prophetisch wirkte sogar seine Vorhersage eines späteren amerikanisch-japanischen Krieges um die Vorherrschaft im Pazifik. Überhaupt sah er in den Vereinigten Staaten den zukünftigen Rivalen des Reiches, sobald sich die Deutschen gegen Großbritannien durchgesetzt haben würden.

Viele der von ihm referierten Beurteilungen des Generalfeldmarschalls kommentiert Krethlow mit einem gönnerhaften „Zu Recht“, um seinem Protogonisten dann aber oft noch im gleichen Abschnitt als irrationalen oder verantwortungslosen Kriegstreiber zu charakterisieren. Wirklich zusammen fügt sich das nicht, zumal der Verfasser hier anachronistisch seinen Protagonisten mit heutigen Maßstäben bewertet. Zwar war v. d. Goltz außergewöhnlich ehrgeizig, aber sein Wunsch, sich an der Spitze eines großen Truppenverbandes vor dem Feind zu bewähren, fügte sich eben damals noch nahtlos in das Denken seiner militärischen Standesgenossen in fast allen Nationen. V. d. Goltz’ frühe Vision eines zukünftigen großen Krieges als langwierige, maschinell geführte Auseinandersetzung ganzer Völker erwies sich im Rückblick als ungewöhnlich realistisch. Auch die spätere Rolle Ludendorffs als Diktator im Kriege sah er in der Figur Léon Gambettas bereits angedeutet. Krethlow spricht sogar von einer geradezu prophetischen Gabe des jungen Offiziers.

Dass v. d. Goltz diesen totalen Krieg dennoch lebenslang erhoffte, kann nur aus heutiger Perspektive irritierend erscheinen. Im Kontext ihrer Zeit handelten jedoch v. d. Goltz wie übrigens auch der jüngere Moltke durchaus angemessen, wenn sie versuchten, den als unausweichlich beurteilten militärischen Zusammenprall der großen Mächte zu einem für das Reich scheinbar günstigen Augenblick herbeizuführen. Krethlows gebetsmühlenartig wiederholte Beschimpfungen seines Protagonisten als Hetzer und menschenverachtenden Kriegstreiber wirken daher pauschalisierend und beinahe zwanghaft, da sie das damalige Paradigma vom unvermeidlichen großen Krieg in fast allen Heeresleitungen Europas ausblenden. Auch seine Bemühungen, jeder im Text erwähnten ehemaligen ostdeutschen Stadt ihren heutigen polnischen oder russischen Namen in Klammern nachzustellen, wirken penibel und stören den Lesefluss. Warum heißt es dann im Text nicht auch Thionville statt Diedenhofen? Ebenso irritiert Krethlows altertümlich wirkende Sprache. Über v. d. Goltz’ Forderung nach einer größeren Bescheidenheit im preußischen Offizierskorps heißt es etwa: „Sie troffen (sic) vor Scheinheiligkeit“. Weiterhin: „Eine seine zahlreichen Denkschriften verfasste v. d. Goltz zu Handen (sic) des Sultans“. Ein gründlicheres Lektorat hätte vermutlich auch folgende Formulierung noch korrigieren können, wo Krethlow im Umgangsjargon über den Russisch-Japanischen Krieg schreibt: „Insbesondere die japanische Methode, das Geschützfeuer auf die feindlichen Linien zu halten, bis dass (sic) diese von der eigenen Infanterie überrannt wurden,…“ Irritierend wirken da zudem die zahlreichen falsch gesetzten oder fehlenden Kommata – und auch das professorale „einerseits –andererseits“ gehört wohl nicht mehr in einen modernen Text.

Gleichwohl ist dem Verfasser mit seiner Biografie des preußischen Generalfeldmarschalls ein beachtlicher Wurf gelungen, der über die genannten formalen Mängel hinwegsehen lässt. Geschickt kombiniert er chronologische und systematische Abschnitte zu einem lesenswerten Lebensbild eines vielschichtigen Offiziers, dessen Stärken eindeutig auf militärfachlichem und politischem Gebiet lagen. In das auf Europa beschränkte Weltbild des preußischen Casinos hatte er sich nie gefügt. Tatsächlich erscheint v. d. Goltz bereits als der engagierte Protagonist einer globalen Auseinandersetzung mit Großbritannien, die zunehmend den Mittleren Osten und Indien in den Blick nahm. Es gehörte fraglos zu Tragik seines beinahe 73-jährigen Soldatenlebens, dass v. d. Goltz seinen einzigen großen Sieg nicht mehr erlebte. Er starb am 19. April 1916 fern von Berlin in Bagdad als Befehlshaber der 6. Osmanischen Armee vermutlich an Flecktypus, genau zehn Tage vor der Kapitulation General Charles Townshends bei Kut al Amara.

Titelbild

Carl Alexander Krethlow: Generalfeldmarschall Colmar Freiherr von der Goltz Pascha. Eine Biographie.
Schöningh Verlag, Paderborn ; München ; Wien ; Zürich 2012.
749 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783506773722

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