Im Dickicht der Kindheit

Megan Abbotts Psychodrama über kleine und große Seelen ist ein Meisterwerk

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Amerika um 1980. Ein langweilig-bürgerlicher Vorort. Keine Villen, aber doch Häuser, die zeigen: man hat es zu etwas gebracht, ist etabliert. Man kennt sich in der Straße, in der Siedlung, man hat nichts zu verbergen – offene Grundstücke, man besucht sich, ist auf Du und Du, die Kinder spielen miteinander. Und die Kinder – bei Megan Abbott in der Mehrzahl Mädchen – sind so, wie sie um 1980 in einem Vorort der USA eben sind: Sie tragen Neckholder-Tops mit Lochstickerei, klackernde Dr. Scholls, pfirsichfarbene Frotteeshorts, bedruckte T-Shirts, pinke Söckchen und karierte Badeanzüge. Sie treiben viel Sport, bei Abbott ist es Hockey, sie essen Marshmallows und gehen in Vorortbars, um bei Karamelleis und Softdrinks zusammenzusitzen.

Lizzie Hood und Evie Verver sind solche Mädchen, beste Freundinnen, beide 13 Jahre alt. Sie erleben einen schwül-heißen Sommer zwischen Hockeyplatz und Swimmingpool – bis eines Tages ein rotbrauner Skylark lautlos an ihnen vorbeigleitet und alles verändert, alles was hell war verdunkelt und verdüstert.

In dem Wagen sitzt Mr. Shaw, ein Versicherungsvertreter, 45 Jahre alt, verheiratet, ein Kind. Man kennt sich, verbringt Zeit miteinander, die Hoods, die Ververs und die Shaws. Und als Evie plötzlich verschwunden ist, wird im Verlauf der Ermittlungen schnell klar: Es ist Mr. Shaw, der Evie in seinem rotbraunen Skylark mitgenommen, sie entführt hat. Schon lange muss der befreundete Nachbar Evie beobachtet haben, nachts, Zigarette rauchend unter ihrem Zimmerfenster. Jetzt ist sie, da sind sich die Mädchen in der Siedlung sicher, die Sexsklavin dieses Mannes, vergewaltigt und missbraucht in irgendeinem schäbigen Motel in der Provinz.

Am Ende ist Evie wieder da, gespenstisch verändert: still, in sich gekehrt, eine Wissende in einer Gesellschaft von Ahnungslosen, Unwissenden, Betrügern und Selbstbetrügern. Auch Mr. Shaw ist am Ende wieder da und es kommt zu einem dramatischen Finale.

Evie gibt Lizzie – und damit auch dem Leser – am Ende andeutungsweise Auskunft über das, was wirklich zwischen ihr und Mr. Shaw vorgefallen ist. Sie bestätigt Lizzies dunkle Ahnungen einerseits, andererseits taucht sie ihre Ahnungen in ein helleres, damit aber noch verstörenderes Licht.

Die Geschichte von Evie, ihres Verschwindens und Wiederauftauchens nimmt sichtbar Vladimir Nabokovs „Lolita“ auf und erzählt diesen Plot neu, nun jedoch nicht aus der Position eines Humbert Humbert, sondern aus der Sicht der besten Freundin eines Opfers. Aus dieser Perspektive präsentiert sich der Stoff im Licht einer kleinen Seele, die sich konfrontiert sieht mit ihr bisher unbekannten oder unterdrückten Gefühlen und Phantasien, vor allem der Lust, der Begierde, der Schuld, der Macht über andere und der Gewalt. Mit ungeheurer Präzision und fast schon brutaler Unnachgiebigkeit komponiert Megan Abbott Lizzies Welt, deren Abgründe für den Leser erst nach und nach sichtbar werden und die nicht einfach, wie es der schwül-ängstliche deutsche Titel suggeriert, auf ein Ende der Unschuld, sondern, so der Titel des Originals, auf das Ende von Allem („The End of Everything“) weisen, auf ein Ende des Fragens, auf ein Ende des Antwortens, auf ein Ende des Verstehens.

Da ist zunächst Lizzie selbst. Sie stellt nach dem Verschwinden ihrer Freundin eigene Nachforschungen an und kommt auch zu neuen Erkenntnissen, teilt diese jedoch ihrer (erwachsenen) Umwelt nicht sofort und direkt, sondern nur verzögert und indirekt mit. Dabei verheddert sie sich in einem Dickicht von Ausreden, Widersprüchen und Lügen, die sie gleichzeitig erschrecken und erregen. Da ist Dusty, Evies Schwester, die schöne und zugleich grausame Kriegerin, die mit einem Blick, einer Handbewegung, einem Wimpernschlag oder mit dem Hockeyschläger alle niederzumachen vermag, die ihr in die Quere kommen. Doch der Weg, den sie sich freizuschlagen versucht, führt ins Nichts, wirft sie unablässig auf sich selbst zurück. Sie nimmt es verzweifelt, triumphal und merkwürdig erregt zur Kenntnis. Und da ist Mr. Verver, Evies Vater, dessen Verzweiflung über das Verschwinden seiner Tochter echt und falsch zugleich ist, Mitleid erregend und obszönes Theater. Zu Mr. Verver schauen die drei Mädchen, Evie, Lizzie und Dusty, auf je eigene Weise verliebt und fasziniert auf. Insbesondere Lizzie macht keinen Hehl aus ihren kindlich-hysterischen Schwindelanfällen in der Gegenwart dieses nach frischer Luft, Limonen und Muskatnuss duftenden Mannes. Jungmädchenphantasien? Mit Sicherheit! Solange man sich nicht einlullen lässt vom naiv-lasziven Tonfall und den Erklärungen der Mädchen, sondern genau liest und plötzlich bemerkt, dass Mr. Shaw nicht der einzige Humbert Humbert der Geschichte ist, sondern im Schutz seiner Verbrechen auch ein zweiter sein Unwesen treibt, mit subtiler Rafffinesse: Mr. Verver – oder sollte man besser Ver Ver sagen?

Am Ende dieser meisterhaft komponierten Geschichte, in der kein Satz überflüssig und kein Detail ohne Bedeutung ist, wird Lizzie eine Entdeckung machen, die sie aus der Bahn wirft. Ahnt sie jetzt, was gespielt wurde, was gespielt wird? Wir erfahren es nicht. Denn Lizzie sagt nichts mehr, ist plötzlich weit weg, hört nicht mehr zu – und so kriecht das, was schon die ganze Zeit da war, auch weiter „geräuschlos von einem Winkel in den anderen“.

Titelbild

Megan Abbott: Das Ende der Unschuld. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Isabel Bogdan.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012.
290 Seiten, 17,99 EUR.
ISBN-13: 9783462043907

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