Von der ,kumulativen Heroisierung‘ zur ‚Wunschbiographie‘ – Jörg Döring und Markus Joch haben den Sammelband „Alfred Andersch ‚revisited‘. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte“ herausgegeben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit fast zwei Jahrzehnten reißen die literaturwissenschaftlichen Debatten über Alfred Anderschs umstrittene Rolle im Nationalsozialismus sowie seine von Ruth Klüger bereits Mitte der 1980er-Jahre einmal als „Wiedergutmachungsphantasien“ kritisierten, nach 1945 verfassten Werke nicht ab. 1993 hatte der Schriftsteller und Germanist W. G. Sebald in der Kulturzeitschrift „Lettre International“ eine erste moralische Attacke auf Anderschs werkbiografische Strategien und dessen tatsächliches persönliches Verhalten im Nationalsozialismus publiziert. Sebald wiederholte seine Argumente 1999 noch einmal in seinem Buch „Luftkrieg und Literatur“, während seine Kritik unter anderem von dem Herausgeber der Kommentierten Ausgabe der Gesammelten Werke Alfred Anderschs, Dieter Lamping, zurückgewiesen wurde.

Hier noch einmal eine kurze Skizze des viel diskutierten Sachverhalts, in dessen Analyse sich die Herausgeber Jörg Döring und Markus Joch in ihrem Sammelband „Alfred Andersch ,revisited’. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte“ nunmehr als Kritiker der Fraktion Lampings profilieren: Andersch hatte sich 1943 von seiner ‚halbjüdischen‘ Frau Angelika scheiden lassen, deren jüdische Mutter Ida Hamburger zu dem Zeitpunkt nach dem Tod ihres „arischen“ Ehemannes bereits nach Theresienstadt deportiert und ermordet worden war. Zwar waren von den Nationalsozialisten aufgrund der Definition der Nürnberger Rassengesetze von 1935 als „Halbjuden“ eingestufte deutsche Personen 1943 noch nicht von Deportationen in die Vernichtungslager betroffen, doch war dies bei der Wannsee-Konferenz im Oktober 1942 schon ernsthaft erwogen worden und in den besetzten Ostgebieten ohnehin bereits gängige Vernichtungspraxis.

Andersch war zuvor wegen seiner Ehe mit seiner Frau aus der Wehrmacht entlassen worden und wusste also nicht nur um die Karriere-Probleme, die ihm aufgrund dieser Verbindung als jungem Autor drohten, sondern vor allem auch um diejenigen Gefahren, die seine antisemitisch beargwöhnte Frau ohne einen „arischen“ Ehemann in Zukunft zu vergegenwärtigen haben würde, da Menschen jüdischer Abstammung durch die Auflösung einer sogenannten „Mischehe“ jeglichen Rechtsschutz vor der Judenverfolgung im „Dritten Reich“ sofort verloren. In einem Antrag auf Aufnahme in die NS-Reichsschrifttumskammer, dem auch im Falle einer Befreiung von den Mitgliedsbeiträgen, wie sie Andersch forderte, ein sogenannter „Ariernachweis“ beizufügen war, bezeichnete sich der Schriftsteller sogar schon vor der Trennung von seiner Frau als „geschieden“ und verleugnete seine Partnerin damit offiziell.

In der amerikanischen Kriegsgefangenschaft wiederum berief sich der Autor zum Zweck der Selbstentlastung auf seine frühere Frau „being a mongrel of jewish descent“, wohl um diesmal seine angebliche Distanz zum NS-Regime zu unterstreichen. Nicht zuletzt stilisierte sich Andersch in dem von ihm selbst als „Bericht“ deklarierten, also als autobiografisch und ‚wahrhaftig‘ dargestellten Text „Die Kirschen der Freiheit“ (1952) nach dem Krieg als willensstarker Kommunist und Wehrmachts-Deserteur sowie in der Person des Protagonisten in „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957) als heroischer, überlegener Retter einer klischeehaft dargestellten, ‚verwöhnten‘ Jüdin aus großbürgerlichem Hause. Andersch verkehrte damit seinen eigenen ‚Schuldkomplex‘ zwecks Selbstinszenierung im literarischen Feld in sein komplettes Gegenteil.

Jörg Döring und Markus Joch haben nun also weitere Studien zu diesem Thema publiziert, die u. a. mit neuen Recherche-Ergebnissen aufwarten, welche die ganze Sache sogar noch einmal umso haarsträubender erscheinen lassen: Nicht nur, dass man zuletzt bereits bezweifelte, Andersch habe seine angebliche mutige Fahnenflucht aus der Wehrmacht im Jahr 1944, wegen der er sich als ‚kleiner‘ Widerständler im Kontext des Hitler-Attentats vom 20. Juli darstellte, bloß behauptet; ein historiografischer Beitrag von Rolf Seubert im Band von Döring und Joch lässt es jetzt sogar fragwürdig erscheinen, ob Andersch wirklich, wie in den „Kirschen der Freiheit“ beschrieben, 1933 kurzzeitig Insasse des Konzentrationslagers Dachau war. Taucht er doch in den NS-Häftlingslisten jener Zeit nirgends auf, genauso wie er auch nicht, wie in „Kirschen der Freiheit“ dargestellt, Organisationsleiter des kommunistischen Jugendverbands in Südbayern gewesen zu sein scheint – um hier nur eingie der Ergebnisse der versammelten Beiträge anzudeuten.

War Andersch tatsächlich nichts weiter als ein typischer Fall einer literarisch inszenierten „kumulativen Heroisierung“ (Harald Welzer) nach dem Zweiten Weltkrieg? Der vorgestellte Band versucht, darauf differenzierte philologische und geschichtswissenschaftliche Antworten zu geben.

J. S.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Jörg Döring / Markus Joch (Hg.): Alfred Andersch Revisited. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte.
De Gruyter, Berlin 2011.
384 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110268096

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