Kleist ein Kantianer?

Tim Mehigan thematisiert in „Heinrich von Kleist. Writing after Kant“ einen wichtigen Zusammenhang der Geistesgeschichte

Von Sandra MarkewitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Markewitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Kant-Krise, die den Dichter Heinrich von Kleist im Jahr 1801 heimsuchte, ist viel geschrieben worden. Es ist ein Datum, an dem poetische Rede konstitutiv irritiert wurde durch philosophische Rede, mithin ein Datum, an dem zwei Kulturen schriftlicher Auseinandersetzung um ein Sujet kollidierten.

Kleist, in seinen Briefen sowohl mit dem „Glanz“ wie dem „Schmutz“ seiner Seele befasst und diese hervortreibend, ist auch eine geistesgeschichtliche Raumstelle, die besetzt werden soll: sein Name strahlt aus auf jene Bereiche, die sein Œuvre streifen und dadurch Färbungen jener Identität annehmen, die man ihm zugeschrieben hat. Wie sieht es aus mit der Kant-Frage im Werk Kleists? Zunächst nimmt Tim Mehigan, rezeptionsgeschichtlich gesprochen, eine Präzisierung vor – Ernst Cassirers Klärungsversuche zur selben Frage waren noch bedeutend spekulativer. In der Kleist-Forschung gibt es zudem, etwa mit Gerhard Schulz, die Ablehnung der Kant-Krise als punktuellem Datum. Nicht eine – philosophisch motivierte – Krise habe Kleist durchgemacht; sein ganzes Leben sei vielmehr krisenhaft gewesen. Es liegt auf der Hand, diese Trennung als Verwirrung zweier Fragen zu sehen: Erstens der strengen nach der Kleist’schen Aufnahme kantischer philosophischer Gehalte im Werk, zweitens der Frage, ob Kleists Lebensführung ihrer Form nach mit kantischen Gehalten zu verbinden war. Die erste Frage ist die nach einem engen, inhaltlich organisierten Filiationszusammenhang, die zweite die nach dem weniger strengen, weiträumigen „Einfluß“ im Sinne einer allgemeineren, nicht nur für den Dichter Kleist geltenden Dependenz. Mehigan möchte (und diese Selbstbescheidung ist positiv) Kleist nicht in einem Sinne eindimensional als Kantianer fassen, als habe ersterer die Philosopheme des letzteren „vertreten“ – was auch eine seltsame Ansicht wäre, die den verschlungenen und notwendig heterogenen Wegen geistesgeschichtlicher Überlieferung nicht Genüge täte. Der Zusatz im Titel: „Writing after Kant“ ist so von einer weiten Bedeutung: „My aim […] is not to see Kleist as a Kantian so much as an ‚after Kantian‘, as a mind shaped by the new set of cultural, aesthetic, and philosophical questions that Kantianism (in whatever forms it came down to Kleist’s generation) brought with it.” So arbeitet Kleist nach Kant wie wir Nachgeborenen; es ist nicht mehr ein exklusiver Resonanzbereich, der sich dem Dichter bis zum theoretischen und praktischen Bruch offenbarte, sondern eine umfassendere Bedingung, von der hier die Rede ist, ein geistiger Markstein, der in der Wirkung auf jene untersucht wird, die nach ihm dachten und lebten, wie man geschichtliche Ereignisse auf das Datum von 1789 bezogen hat und die Phänomene daraufhin in ein Vorher-Nachher-Schema einordnete.

Wie geht Mehigan nun vor? Zur Textgestalt ist zu sagen, dass der Autor, Professor an der University of Otago, Neuseeland, sich schon länger mit Kleist beschäftigt hat – auch Teile seiner Dissertation sind in das vorliegende Buch eingeflossen (bis auf die Einleitung und das letzte Kapitel wurden die Texte an anderer Stelle bereits publiziert). Das Buch ist in drei Teile eingeteilt: Reason (1), Agreement (2) und Inference and Judgement (3). Damit ist Kant als Gestaltgeber der Gliederung zitiert, wenn auch zugleich relativiert: Die kantische Einteilung seiner kritischen Philosophie in „reine Vernunft“, „reine praktische Vernunft“ und „ästhetische Urteilskraft“ finde sich wieder, aber auch dies wird nicht im Sinne einer Verschmelzung beider Autoren verstanden. Somit hat Mehigan bereits jenen Verdacht distanziert, Kleist solle mit Kant auf dessen Philosopheme reduziert werden. Natürlich steht auch die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie auf dem Plan, die man eben nicht nur durch ein lakonisches „und“ verbinden kann. Manchmal ist die Trennung der Sphären sinnvoll, gerade im Falle Kleists hat die Absetzungsbewegung von einer philosophischen Vermittlung seines Werks beträchtlichen Einfluss gehabt, etwa für Karl Heinz Bohrers Verständnis des Topos des Selbstmords als Zentralpunkt („Selbstmordbriefe“) und die Verbindung seines Werks und ästhetischer Besonderheit mit dem theoretischen Konzept der „Plötzlichkeit“. Nicht nur Philosophie und Literatur kämpfen hier um ein Deutungsrecht: Zu sehen ist, welche Probleme auftauchen, sobald die ungeschriebenen Grenzen der Disziplinen sich vermischen, Krankheit und Tod, so mag es scheinen, sind die Begleiter solcher initialer Grenzverletzung. Der Einwand dagegen lautet, dass nur solche Grenzverletzungen produktiv seien, da Orthodoxie, mit Bertrand Russell, der Tod des Denkens sei.

Das Einleitungskapitel zeichnet knapp Kants Wirkung auf die romantische Generation nach (Selbstbewusstseinsthema), es legt die Grundlage des Buches, Mehigan findet hier präzise Worte. Die Entwicklung von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ etwa von der Version A (1781) zu B (1787) mit der tendenziellen Verschiebung des Darstellungsakzentes hin zur Negierung der Fakultät der Einbildungskraft (underlying faculty of the imagination), die als Verstärkung des rationalistischen Zuges gelten kann, wie Martin Heidegger in „Kant und das Problem der Metaphysik“ (1929) hervorhob. Kein gelenkter Lernprozess bei Kleist – als Gegenbild wird Friedrich Schiller genannt – die Theoreme überfluteten den aufnahmebereiten Geist, der später, im Todesjahr 1811, den Weg zum Schweigen als Ende der Fragen nach Repräsentation und Verkörperung finden sollte: Der „Brief eines Dichters an einen anderen“ kann hier, additiv zu Mehigan, als zentraler Text gelten, in dem die Kant-Krise im Werk Kleists im „fiktiven“ Brief eine Antwort fand – Ludwig Wittgenstein konnte sich mit und nach dem „linguistic turn“ nur wundern: „Kleist schrieb einmal, es wäre dem Dichter am liebsten, er könnte die Gedanken selbst ohne Wort übertragen. (Welch seltsames Eingeständnis).“ Die Bemerkung des Philosophen von 1931 zeigt schon, wie das Krisenmoment seine Form verwandelt: aus der Einsicht in die „Relativität unserer Erkenntnisvermögen“ (so die Deutung der kantkrisischen Erschütterung, die von Mehigan differenzierter begriffen wird) ist Irritation angesichts der offenkundigen Verweigerung eines der Kommunikationsmittel geworden. Nun sagt dies – wieder – ein Philosoph über einen Dichter, beide sind keine Masken, aber sie füllen dem wenig träumenden Bewusstsein der Gegenwart und des Gegenwartsblicks ihren Platz aus. So wurde Kleist aus der Leibniz‘schen Idylle gerissen, die noch seinen frühen Glücksaufsatz („Aufsatz den sichern Weg des Glücks zu finden…“, entstanden spätestens 1799, Urfassung möglicherweise früher) bestimmte, ein eigener Schlummer kritischer Vernunft, der Ich und Welt im Einklang präsentierte – ein Ich, das nun, gegenwärtig, dem naturalistischen Denker ein Dorn im Auge ist („Es gibt kein Ich, es gibt nur mich“ (A. Beckermann)). Es darf hier – im Kleist-Kant-Kontext – noch sein, aber es wird sichtbar in seiner Verletzung, als hätte die gedankliche Verletzung der Geltung seiner Fakultäten das Ich-Gefühl irreparabel beschädigt.

Hervorragend das Kapitel über Penthesilea“, den Ort, an dem Kleist seine innere Seele ganz entgegentrat – was, im Blick auf die dionysische Komponente in Kleists Werk, Gisela Dischner kürzlich in einem Essay herausgearbeitet hat. Mehigan gelingt hier die vorzügliche Darstellung der Problemlage des menschlichen Selbstbewusstseins als Weg des ausgeschlossenen Dritten – dieses Tertium doch zu erreichen, ist das vergebliche Ziel der Protagonisten. Penthesileas Liebe zu Achill, die zu sich nur kommen kann in drastischen encountern, vermeidet den Frieden, da sie das Glück des Mittelweges, der guten Mitte der antiken Philosophie, nicht kennt. Die Abgründe der Moderne sind bei Kleist aufgebrochen, die Subjekt-Objekt-Spannung kann nur in der Katastrophe ansichtig werden. Mehigan über Fichte, dessen Wissenschaftslehre“ Referenz ist: „Fichte concludes that the world does not reveal itself as ‚Spiegel, Ausdruck, eine Offenbarung, ein Symbol…des Ewigen’ because ‚das Ewige kann sich nicht spiegeln in gebrochenen Strahlen.‘“Die Liebe zu Achill, unzeitgemäß in ihrer eigenen Bewegung des Herzens, zitiert ein philosophisches Problem: Göttlich bleiben, den Auftrag von Kampf und Sieg der Amazonen erfüllen oder den lieben, den zu bekämpfen man angetreten ist. Die Erkenntnisvermögen können sich hier, wo das Dritte, das Tertium, ausgeschlossen ist, nicht an einem ruhigen Sachverhalt ansiedeln; sie selbst werden zerstört, wenn im großen Zerfleischungsakt die Materie des Körpers alle Paradoxien, die das menschliche Leben vergifteten, nicht mehr trägt. Der Körper des Geliebten wird zerrissen. Penthesilea“ ist indes nicht nur Arena der Performanz, nicht nur Übung und Zurschaustellung der ungenügenden Ideale philosophischer Diskussion, deren Aporien durch gewaltsamen Tod gelöst werden. Das Drama erinnert vielmehr, woran Mehigan richtig anknüpft, an die traumhafte Qualität der Liebe der Amazone: „Du hörst, es war ja nur ein Traum, es ist nicht – / Wie! Oder ist es? Ists? Wärs wirklich?“

„The arena of love is also the arena of elemental freedom“ (Mehigan); alles Denkbare, Fühlbare scheint auf in der Liebesbegegnung, Neuerschaffung, des Selbst wie scheinbar der Natur, deren Bande nicht mehr halten. Gerade das Wissen um eine mögliche traumhafte Qualität des Lebens jenseits der Arbeit, des Krieges und der Gesetze ermöglicht es, die Gesetze des Lebens, die eine Ordnung sicherten zu überschreiten. Freiheit als „Thathandlung“ im Fichte‘schen Sinne lässt zufälliges, unausweichliches Liebesgefühl zur Setzung werden. Subjektivität wird in der Tat hermetisch, wo sich ihre Erfüllungsbedingungen nur katastrophisch erfüllen können. Dezisionistisch, so Mehigan zu Recht, fällt die Kontaktaufnahme aus, wo sie ebenso unwahrscheinlich wie gesucht ist, wo sie als einzige und letzte Notwendigkeit erscheint und Ziele mit all ihren sie umgebenden beruhigenden Befestigungen so „sinken“ können, dass man keine mehr hat. Die Härte dieser dezisionistischen Annäherungsform ist die des noch nicht befriedeten Agons, des Spiels ums Ganze, das Ernst ist. „Küsse“ und „Bisse“ werden verwechselbar, tatsächlich eine „grammatical confusion of letters and spirit“ (Mehigan), die auf die großen nachmetaphysischen Bestimmungen von Mensch und Sprache in Wittgensteins später Philosophie vorausweist. In der Tat: Die Modernität von Kleists Sprache ist ein eigener, in der Forschung wohlbestellter Topos. Dem Autor von „Heinrich von Kleist. Writing after Kant“ gelingt es, Kleists Penthesilea“ tatsächlich philosophisch zu lesen und seine Leitfrage stets als perspektivierende Linie zu wahren. Die an verschiedenen Orten publizierten Einzeltexte fügen sich nicht nur der Fragestellung ein – inwiefern und auf welche Weise Kleist Kantianer war – sie vermögen auch, dank der philosophischen Kenntnis des Autors, vom geraden Wege der Forschung abweichende Betrachtungen, die den Wert lebensgeschichtlicher Momente kennen, in denen das Dritte ausgeschlossen ist. Am Ende bleibt, so zeigt Penthesilea“, dem von der Welt ausgeschlossenen und in seinem Dualismus befangenen Selbstbewusstsein der Traum – nächtliche Vermählung mit den mehrstimmigen, noch kaum dämonischen Traumbildern.

Doch die Unmöglichkeit des Dritten ist nicht nur Last des modern transzendental obdachlosen Menschen. Wie Lukács anlässlich Kierkegaards bemerkte, man dürfe nicht „Mittelwege“ finden wollen, nicht „höhere Einheiten“, erweist sich Kleist als Vorläufer eines Denkens, das, cum grano salis, im 20. Jahrhundert gelernt hat, von Wünschen nach höherer Synthese und ihrem Glücksversprechen abzusehen. Wieder hilft ein Blick auf Lukács genialisch-wunderbares Werk „Die Seele und die Formen“: Der junge Denker, der, so Ágnes Heller, mit diesem Buch „auf der Suche nach sich selbst“ war – es sind die Jünglinge, die denken durften, die unter der Last der Dualismen zugrundegehen können – dieser junge Denker hatte das Auge für die kostbare Individualität, die sich nicht an der materialen Existenz oder gar Erfüllung eines Wunsches orientiert, um seine Legitimität zu beurteilen: „und wenn ein Kierkegaard ein Leben dichtet, so tut er es nicht […] um die Wahrheit zu verbergen, sondern um sie überhaupt sagen zu können.“. Daß Schreiben selbst zur Möglichkeitsbedingung eines Traumes wird, nicht zur Wirklichkeitsbedingung, ist der Nebentext in Mehigans Kleist-Buch. Kleist war eben, neben seiner Einholung und Einordnung in den theoretischen Diskurs des Deutschen Idealismus, ein Außenseiter, aber ein Außenseiter der an die Vernunft und an die Glücksmöglichkeit des Menschen im Leben glauben wollte. Wie Kafka, auf den Mehigan als seelisch wie sprachlich Kleist Verwandten noch kommt, antizipierten die Außenseiter wider Willen die kommende Wendung auf die Sprache, den „linguistic turn“. Es ist, in Penthesileas stockender, tastender, fragender Sprache der fragende Gestus der Moderne, der ankündigt, den alten Erzählungen nicht mehr zu glauben – und nicht alles fügt sich, nicht alles rundet sich zur Geschichte.

Wenn von Kleist die Rede ist, fällt, auch hier, das Wort „Gesetz“. Die Erzählung „Michael Kohlhaas“, die in einem meiner Kinderbücher das starke Gerechtigkeitsempfinden der Heldin illustrierte, hat hier einschlägigen, fast typischen Status; schon beginnt die Forschung sich gedanklich von dem ubiquitären Gerechtigkeitstopos abzusetzen: „Was geht uns eigentlich der Gerechtigkeitsbegriff in Kleists ‚Michael Kohlhaas’ noch an“? fragte etwa Peter Horn schon 1973 in den „Acta Germanica“. In der Tat ist der Gerechtigkeitsbegriff als Begriff geeignet, die Kleist-Rezeption in eine falsche, vom Ästhetikum ganz fortgehende Richtung zu lenken. Auch die Rede vom Dichter als Außenseiter wird so gefährdet. Dichtung ist nicht die Frage nach dem Guten, Dichtung (in aller Emphatik dieses verblassenden Worts) ist die Möglichkeit, träumend zu leben und Paradoxa, denen die Gedankenbildung nicht entkommt, durch das poetische Wort aufzusprengen. Discerning reality – dies ist nicht die Aufgabe der Dichter, wenn auch eine Stimmung, ein Klang, eine Nuance uns erreichen können wie für uns gemacht.

Zurück zum Thema Gerechtigkeit: Mehigan widmet dem Thema zwei voneinander abgeschlossene Kapitel: „Heinrich von Kleist’s Concept of Law, with Special Reference to ‚Michael Kohlhaas‘ “unter der Rubrik „Reason“ im ersten Teil des Buches und „‚Michael Kohlhaas‘: Death and the Contract“ im zweiten Teil des Buches unter dem Oberbegriff „Agreement“. Die kantische Anordnung des Materials ist eine nachträgliche Einteilung, das wird im Mittelteil, der Texte aus dem 1988 bei Peter Lang erschienen Buch „Text as Contract“ enthält, deutlich. Solche Implementierungen, auch der Veröffentlichungspraxis nachträglicher Sammlungen geschuldet, können eine These überdehnen. Gleichwohl arbeitet der Autor stringent seine These heraus, Kleists Texte seien durch Verträge, zumeist schriftliche, geprägt und geordnet. Das vertragstheoretische Denken – eine bedeutende philosophische Denkweise in der Tradition vor allem von Hobbes, dann auch von Rousseau, hat zum Ziel die Befriedung der Affekte, ist Teil der Lösung des von Parsons sogenannten „Hobbesian problem of order“. Nun ist die Zeit konfessioneller Bürgerkriege, in denen Hobbes die Menschen vor ihrer eigenen Ausstattung schützen wollte, vorbei. Die Symbolfigur des integrierenden, dafür mit Autorität belehnten Souveräns scheint zunächst aus einer anderen Zeit zu stammen, zeigt aber, in der Rekurrenz des Ordnungsproblems gerade auch im soziologisch-politischen Diskurs, eine Aktualität an. Die These Mehigans lautet: „Kleist`s conceptions of law assume versions of the early modern contractualist position and are accordingly to be situated in the context of discussions about a social contract in the seventeenth and eighteenth centuries. (!)“ Kopernikanisch hat sich der Blick auf das Subjekt gewendet, das nun Vertragspartner wird – eine Schutzanordnung, die von der krisischen Ausstattung des Menschen (bei Hobbes: Ruhmsucht, Herrschsucht, Habsucht) wegführt. Es ist eine weitreichende Entscheidung, Kleists waghalsiges Denken an den Grenzen der Sprache in eine vertragstheoretische Bindung zu überführen. So wird der Sprache, um deren Rettung (revaluing of the written word) es recht eigentlich gehe, wie das achte Kapitel deutlich macht, mit einer Semantik aufgeladen, die der freien Kunst entgegensteht. Das Moment der Freiheit erhält sich (als Denkbarkeit) in der theoretischen, heuristischen Vorstellung des fiktiven Naturzustandes, des Zustandes vor aller politischen Ordnung, der nur gedacht werden kann, wenn man diese Ordnung schon voraussetzt und ihre Geltung plausibilisieren möchte. Kleist war kein Staats- oder Sozialphilosoph, auch philosophische Metaphern, als welche wir den Kontrakt verstehen dürfen, treffen nicht das konstitutionelle Zentrum dieser Schrift, dieses Schreibens um den Preis des Lebens. Im Kohlhaas“, mit Helga Gallas, metonymische Ketten am Werk zu sehen, ist auch der Beschreibungsweise einer Zeit geschuldet (1980er–Jahre). Entscheidend ist, gerade im Reden von Vertrag und Recht, die notwendige Authentifizierung des Subjekts, die Rechtshandlungen erst ermöglicht. Das Ehrlich-Machen ist das Zentrum des Rechts-Diskurses, man muss sich als subjektfähig beweisen (den Status des citizen verdienen), um in den Genuss der Gerechtigkeit zu kommen, die als Recht die schriftlichen Sätze der nomologischen Rede versprechen. Legalität: das Ehrlich-Machen der Dinge, die es vorher vielleicht nicht waren. In diesem Sinne lässt Mehigans Kohlhaas-Lektüre das Skandalon in Kleists Werk hervortreten: Gerade vor dem Hintergrund der Anwendung eines Rechts-Diskurses wird klar, wie Kleists Semantik des (Auf-)Begehrens auf das Ehrlich-Machen der Subjekte pfeift, wie sie ihre Bahn ziehen, vom höchsten Zweck getrieben, der sie doch aufgrund fehlender sozialer Voraussetzungen, nicht meint. Die soziale Ordnung, an die Kohlhaas glaubte, hatte, bei damaliger fester Stratifikation, für ihn als Bürger au fond keinen Platz. Ein Glaube an das Recht wird also enttäuscht, wie das Stück Papier der Zigeunerin Kohlhaas mit der Macht ausstattet, den Kurfürst von Sachsen ohnmächtig niedersinken zu lassen (auch Besetzungen des Raumes, Raumstrukturen, ließen sich mit Blick auf den Kohlhaas untersuchen, Mehigans kommendes, mit Alan Corkhill herausgegebenes Buch wird vom Raum handeln, „Raumlektüren“).

Das geschriebene Wort gehört auch den Betrügern und Verächtlichen, es ist Werkzeug mit aller Implikation von Übertragbarkeit und Vorläufigkeit. „The willing tool of the corrupt and the deceitful“ – das ist die bindende Kraft der Sicht auf das Wort als Werkzeug seit Platons „Kratylos“.

Richtig hebt Mehigan die Rolle des Lesers hervor als „the final arbiter of the value of the word“. Er wird, nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts, als Vermittler des Wortes wichtig werden und sich einfinden dürfen in die Welt rechtlicher Standards. Ähnlich dem „autobiographischen Pakt“ Lejeunes, muss der Leser erwarten, was sich als Semantik entfaltet; er muss aber auch vorbereitet sein, eine Semantik aufzunehmen. Göttlich, divin, sei die Rolle der Zigeunerin, die Kohlhaas mit dem statusbildenden Zettel versorgt? Göttliche Semantik? Eher das Einschreiten einer typisierten (paganen) Figur als deus-Funktion (Klaus-Michael Bogdal, auf den sich Mehigan mehrfach bezieht, hat gerade das Buch zum Thema („Zigeuner“ als Erfindung Europas) verfasst). Wie Recht auch aus der magischen Sphäre kommt, die nicht alle Protagonisten des „Kohlhaas“ ernstnehmen, zeigt das Essen und Verschlingen des „scrap of paper“, auf dem das Schicksal des sächsischen Hauses stehen soll – dass der Zettel, ohne Wirkungsaufhebung, auch leer sein könnte, zeigt die Herrschaft der Kontextbedingungen über die Artefakte, die Dinge an.

Zum Ausklang im dritten Teil folgen Gedanken über den Text „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, der modal auf die Kontingenzbasiertheit moderner Gedankenbildung vor ihrer rhetorischen Indienstnahme verweist. Die Kant-Referenz wird im Laufe des Buches schwächer und hier, in Kapitel 9, abschließend nocheinmal aufgenommen; es ist, als ob die Evidenz der Buchstaben mit Novalis` „Monolog“ ihre eigenen Wege hat. Kleist war indes, wie auch Mehigan sagt, kein „metaphysischer Ironiker“; Ironie hilft denen nicht, die sich verloren haben und auf Subjektstärke, auch in der invertierten Form, nicht mehr hoffen. Stattdessen wird der „neue Kleist“ als Anhänger offener philosophischer Systeme gezeichnet, Poppers Weg gegen die platonische Inklination klingt hier nach. Was bei aller Sympathie für Mehigans gelehrte und sorgfältige Arbeit nicht völlig unterschrieben werden kann, ist das Festhalten an Kleist als „troubled but constructive“. Mit den Gewaltausbrüchen, die die Seele sich nicht wünscht und der Betonung allmählicher Gewinnung von Gedanken ist nicht nur der Aquin‘sche Wahrheitsanspruch der Adaequatio distanziert, sondern auch die Idee des Konstruktiven. Das Gegenteil lautet nicht nur: Destruktion. Es findet vielmehr „final fruition“ nicht statt – wie auch Kafka eben ein unfreiwilliger Außenseiter war, der sich dadurch nicht unterscheiden wollte. Nur schlichte Gemüter (nicht Mehigan) unterstellen jeder nicht ganz trivialen Geste den Distinktionswunsch. Vor wem wollte Kleist sich unterscheiden? Er wollte heimkommen, nicht in ein Nest oder den Winkel des Kindes, das Dichter wird, wie bei Bachelard, sondern in eine Sprache, die ihn nicht verriet. Deshalb geht es nicht nur um „ein zweideutiges Spiel an der Manschette“ als Bote des Umsturzes der Revolution in „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Die Umstürze in der eigenen Seele sind bald sprachlich nicht mehr einholbar, sie legen das Schweigen nahe, das sich mit Adaequatio-Funktionen nicht einmal ex negativo mehr auseinandersetzen kann.

Stärke des Subjektentwurfs ist bei Kleist nicht zu erreichen, der Periode um 1805 folgte der Selbstmord 1811, der nicht nur ein Leben, sondern ein Sprachverhältnis irreversibel beendete. Hier ist Biografie – auch dieses geschah „nach Kant“ – nicht nur Biografie, sondern Einübung in die moderne Kondition, von der so gleichlautend gesprochen wird, weil ihre optimistischen Anklänge bald auf Subjekte trafen, die noch in der Modernitätskritik und deren Verkehrsformen Subjektstärke bewiesen (Existentialismus). Ein Ismus nimmt Kleists Zweifel nicht auf, deshalb besser: nach, nicht mit Kant. Am Ende geht es um das Recht zu sprechen, noch heute, an einem Ort der Lebenswelt. Das Denken sollte sich seiner Bildhaftigkeit entsinnen, gerade wo es um kantische Standards geht, Begriff und Anschauung sind verbunden, Begriffe sind sinnlich zu machen, Anschauungen verständlich (Kant, Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Logik). Unsere Erkenntnis richtet sich nicht mehr nach den Gegenständen; das lässt nicht nur Raum für Krise und tragischen Impuls, sondern für Invention des Neuen und Fantasie. Wenn Mehigan schließt „…a Kleistian poetology comes to light, proceeding from the idea that language ultimately can produce only language, even if it attempts to communicate ideas”, gelangt Mehigan auf den rauhen Boden der Tautologizität“ (Markewitz 2006), des Sprechens nach Kleist und Kafkas Erkundungen, das uns trägt, wenn es auch nicht mehr extramundan operiert. Wir begnügen uns faktisch, beruhigt (kein „Mythos“ des Gegebenen, sondern dessen differenzierte Ansicht) und geben unseren Beunruhigungen solange eine sprachliche Gestalt, bis deutlich wird, dass, mit Wittgenstein, die Ethik sprachlos ist, da keine Faktenaussage je ein absolutes Werturteil implizieren kann. Methodisch ist in der Tat Induktion hier angemessen, wenn man wissenschaftstheoretisch sprechen will, nicht mehr das deduktiv-nomologische Vorgehen, das so anfällig für das kritiklose Implementieren systematischer Entwürfe mit ihrer immer noch totalisierenden Seite war.

Das abschließende Kafka-Kapitel beschaut die „Blutsverwandten“ der ästhetischen Moderne. Der Schritt ins 20. Jahrhundert mit Kafka zeigt Aktualität, die nie ihr eigener Zweck sein sollte und Mehigans These differenzieren lässt: „Kleist’s Kantianism […] appears to entail a somewhat ‚anti-Kantian‘ kind of Kantianism.“ Dennoch habe Kleist vom kantischem Erbe, dem Erbe der Ideen, gelebt. Die Betonung der Offenheit des „neuen Kleist“ jenseits der Tragik des kantkrisischen Erlebnisses geht einher mit der Frage nach dem Glück – es ist stärker als die Idee und stärker noch als der Wunsch nach Wissen, das dem Zweifel standhält. Die Bacon-Referenz am Ende des Buches (Francis Bacons „Novum Organon“ mit der Betonung induktiver Methode) nennt das passende Werkzeug, passend im gegenwärtigen Jahrhundert: die gemeinschaftliche Existenz der Menschen lege fälschlich ein gemeinsames Sprachmittel nahe. Im „Novum Organon“ heißt es: „Die Menschen glauben, ihr Verstand gebiete den Worten; es kommt aber auch vor, daß die Worte ihre Kraft gegen den Verstand umkehren; dies macht die Philosophie und die Wissenschaften sophistisch und unfruchtbar. Die Worte aber werden größtenteils nach den Auffassungen der Menge gebildet und trennen die Dinge nach den Richtungen, die dem gewöhnlichen Verstand besonders einleuchtend sind“. Auch das ist die Wiege der Betonung der Induktion. Kleists Glücksverlangen lässt sich ideell treffen, führt aber einen Gegen-Kant durch die Gegenwart der Schrift mit sich. Es ist die Sprache der Vielen, die Kleist depravierte, nicht die der Wenigen. So fand er im Schweigen des Dichterbriefes am Ende seines Lebens zu einer Äußerungsform, die die Ent-Äußerung des Subjekts zurückhält. „Heinrich von Kleist. Writing after Kant“ gibt fundierten Stoff für neue Diskussionen; dass der Kleist der Moderne als tragisch gilt, dankt sich der Rolle des Sprachmittels, das Krisen hervorruft, die zu lösen nur ein Wechsel modaler Gegebenheit (vom Sprechen zum Schweigen) imstande ist. Kleists Subjekte sind auch: der somnambule Prinz von Homburg, die liebend-rasende Penthesilea – ihre zerstörenden Träume konnten die Ordnung nicht lösen, der sie sich verpflichtet hatten, sie wirken, auch jenseits des Vertragsdenkens und der philosophischen Vertragstheorie, die vom Ehrlich-Machen der Subjekte lebt, auf die Sprachbenutzer bis heute ein.

Titelbild

Tim Mehigan: Heinrich von Kleist: Writing after Kant.
Camden House, Rochester 2011.
232 Seiten, 68,99 EUR.
ISBN-13: 9781571135186

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