Vom Ungenügen deutschen Geistes

Karl Heinz Bohrers Studien zum Provinzialismus

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der emeritierte Bielefelder Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer hat erneut Unerhörtes zu Papier gebracht: Der (west-)deutsche Provinzialismus lebt! In zwölf schneidenden Essays bescheinigt der Autor der westdeutschen Intelligenz, dass sie bitteren Mangel leide. Politik, Universität und Kulturbetrieb, sie alle krankten am ungehinderten Wuchern des Regionalen: Ablesbar sei der einheimische Provinzialismus nicht etwa an Entwicklungen quantitativer Natur, sondern vielmehr an den einer inventarisierenden Bestandsaufnahme weniger zugänglichen "Bewußtseinstatsachen" wie Mentalität, Stil und Phantasie. Sein Befund: das Vormodern-Feudale, Verdruckst-Familiäre, Dumm-Sture feiert in den Köpfen der Deutschen fröhliche Urständ'.

Als Einleitung dient dem Band ein Essay von 1982, in dem Bohrer erstmals anprangert, was nach Martin Walser befehdetem Paulskirchenvortrag (und der Widerrede Ignatz Bubis') hierzulande unter dem Begriff 'Schuldkultur' firmiert. Zielscheibe der Kritik ist die damalige Friedensbewegung und ihr Protest gegen den englischen Falklandkrieg. Warum wurde in Deutschland weder der englische Nationalstolz, noch die Noblesse, noch die unerschütterliche Prinzipientreue verstanden, mit der die angelsächsischen Nachbarn ihre Insel verteidigten? Die Gründe, findet Bohrer, müssen psychischer Natur sein. Denn wir Deutschen leiden noch immer unter der traumatischen Erinnerung an den Nationalsozialismus, "daß man entweder sich selbst allzuoft mit den Verächtern der eigenen Grundsätze einließ oder selbst Opfer war".

Das Resultat ist eine tiefgehende Unbedarftheit, mit der die Republik dem Gegner die ungeschützte Kehle präsentiert. Wenn Bohrers Argument stimmt, dass wir den Krieg deshalb als unmoralisch betrachten, weil wir an einer Verwirrung unseres moralischen Urteilsvermögens leiden, ist dieser Teil unseres politischen Bewusstseins bis auf weiteres unhintergehbar.

Der für Bohrer unerträgliche Pazifismus wird mit der deutschen Reaktion auf den Golfkrieg virulent, als Außenminister Gentscher nach dem Ende aller Vermittlungsbemühungen noch immer als eine Art "Friedensautomat" herumlief. Verlogen ist der Pazifismus nach Bohrer deshalb, weil er in seiner deutschen Ausprägung als "winselnde Harmlosigkeit" unendlich erpreßbar und seiner konkreten politischen Ziele beraubt ist. Als 'Frieden um jeden Preis' münde er ein in eine Entpolitisierung des Denkens und eine Auflösung der Staatsräson in Gleichgültigkeit.

Provinzialismus, das ist für Bohrer nicht nur internalisierte Duldsamkeit, sondern auch die verkappte Abkehr von der westlichen Welt. Der Autor geht in der Vertauschung der uns geläufigen Schwarz-weiß-Werte noch weiter: "Das Stigmatisieren jedes Krieges im Namen universaler Prinzipien ist letztlich ein Produkt unserer barbarischen Tradition, die in der Tat seit dem ersten Weltkrieg [...] den Krieg nur atavistisch-existenziell affirmieren, ihn aber nicht zivilisatorisch zu begünden vermochte."

Wie also mit der Geschichte fertigwerden? Historisches politisches Gedächtnis, sagt Bohrer, beruhe auf der Herausbildung eben des Selbstbewusstseins, das uns abhandengekommen ist - genau hier liegen die Kapazitäten für eine Schamkultur. Man sehe es dialektisch: "Die Flucht in die Transnationalität ist auch deshalb so irrational, weil gerade dadurch die nationale Akzeptanz des Jahrhundertverbrechens verwischt würde." Demnach wäre Selbstbewusstsein als ruhiger Selbstbezug im Kontext des Nationalen erst herzustellen. Das klingt, als wäre das Unrecht nur durch die psychologische Restituierung der Täternatur, durch Wiederherstellung affiner geistiger Zustände zu bewältigen. Mit anderen Worten: Das im 'Gedenken' auszubalancierende Gleichgewicht von 'Identifikation' und 'Emanzipation' droht bei Bohrer in Richtung der ersteren Kategorie umzukippen.

'Provinzielle' Dispositionen treten Bohrer zufolge bei der Hauptstadtfrage zutage. Demnach war die Berlin-Furcht nur Ausdruck einer politisch-geistigen Überforderung, ein sich als Bescheidenheit kaschierendes Niedrighalten des politischen Gestaltungswillens.

Man muß dem Buch zugute halten, dass sich unter dem psychologischen Blick, den Bohrer als Kritiker und Berichterstatter für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" in London schärfen konnte, unsere Selbstwahrnehmung unversehens aufgehoben wird, indem sie konsequent mit Fremdwahrnehmung konfrontiert wird. Selbst wenn Bohrers Skizzen nicht frei von sarkastischer Überzeichnung sind, bleibt der Eindruck haften, dass unsere Nation von allen anderen, aufgeschlosseneren Mentalitäten stets nur mit mitleidigem Kopfschütteln bedacht wird.

So erschütternd Bohrers Analysen sind, und so sehr man in ihnen reaktionäres Bewusstsein wittern möchte, so schwer zu widerlegen sind sie auch. Die sozialpsychologisch prägende Wirkung der Nachkriegsepoche ist nicht zu leugnen. Zudem hat Bohrer immer entscheidungslastige Situationen im Blick, weshalb man ihm auch das Fehlen der Perspektive einer harmonisierten Staatenordnung kaum wird nachsagen können. Über allem schwebt das psychologische Argument. Der Autor steht als einer der wenigen unabhängigen Geister außerhalb jeder parteipolitischen Bindungen, d. h. seine Erklärungen speisen sich einzig und allein aus der eindringlichen Erhellung deutscher Kultur an ihren Gegenbildern England und Frankreich. Worauf der Rezensent so umständlich hinauswill? Man darf Bohrers wohltemperierte Texte, die nicht nur durch größtmögliche Umsicht und ein einschüchterndes Wissen bestechen, sondern in einer Art nervöser Überreflektiertheit das Gegenargument gleich doppelt und dreifach mitbedenken, bei aller gebotenen Vorsicht auf keinen Fall unterschätzen.

Auf regionale Zuständigkeiten begrenzt und von keinem höheren kulturellen Gewissen koordiniert findet Bohrer die Wissenschaftsministerien der Landesregierungen vor. Auch hier fehlt es an übergeordneten Prinzipien, vielmehr sei ein "Trend zum hedonistischen Lokalpatriotismus" und eine "Tendenz zur gänzlichen Partikularisierung von Regionalinteressen" festzustellen. Dafür stehen prototypisch der damalige Wirtschaftsminister ("Vakuum-Mann") und der Bildungsminister, jene "Erscheinung aus dem kulturellen Nichts". Von den Kunstwerken bleibt nur das übrig, was sozial modellbildend und lebenspraktisch adaptierbar ist. Sichtbar wird dies an Schriftstellerkarrieren wie denen von Grass, Härtling, Walser: Deren beachtliche, der Moderne verpflichteten Anfänge versiegen in einem seicht-betulichen Erzählstrom, der mit dem provinziellen Syndrom auf das unerfreulichste korrespondiert.

Werbung, Journalismus, Schlager, Film, Stadtbilder - all dies wird vom Ästhetiker Bohrer schonungslos auf seine provinziellen Merkmale hin befragt und für harmlos, wässrig oder gesichtslos befunden. Die englischen Journalisten, so ist zu vernehmen, nennen ihre deutschen Kollegen "boring". Provinzialismus, das ist Verlust an Lebendigkeit und Weltkontigenz "zugunsten einer vorab tiefernst geregelte[n] Sinngebung". Entlarvte Bohrer seinerzeit den ungezügelten Anarchismus und die Liebe zu Schlachten als "englische Krankheit", so ist liegt das Gebrechen Deutschlands in seinem verkommenen Eigensinn.

Provinzialismus manifestiert sich in Vokabular und Mimik der "von Alkohol aufgedunsenen, in Völlerei entglittenen Gesichter vieler bürgerlicher Politiker, die den Gauleiter-Physiognomien so schrecklich gleichen", vor allem aber in der Figur des Oggersheimers Helmut Kohl. Galoppierender Stilverlust im Kanzleramt, Defizite im Intellekuellen, die Unfähigkeit, eine artikulierte Satzfolge über die Lippen zu bringen, eine "jeder geistigen Wahrnehmung widersprechende Körperlichkeit" - das sind nur einige der Vorwürfe, die sich der Altkanzler gefallen lassen muß.

Kohl als Gestalter der Einheit? Nicht für Bohrer, der das Zusammenwachsen Deutschlands als einen naturwüchsigen, aus dem Zusammenbruch der sowjetischen und ostdeutschen Wirtschaft resultierenden Prozess beschreibt: "Das einzige, was da als Verdienst bleibt, ist, daß Kohl von keiner linksutopischen Ideologie gehindert wurde, den Apfel, der ihm in den Schoß gefallen war, auch sofort aufzuheben und zu essen."

Die fortgeschrittene und deshalb perfidere Form des politischen Provinzialsimus manifestiert sich für Bohrer im "Europrovinzialismus" Oskar Lafontaines. Überhaupt spricht alles in diesem Buch von der vornehmen Überlegenheit des französischen, mehr noch des englischen Geistes über den deutschen. In der Sprache steht der englischen Spontaneität, Farbigkeit und Nuanciertheit der Rede die deutsche "schwerfällige Konventionalität unversicherter höherer Angestellter" gegenüber, denen jede Expressivität abgeht. Auf philosophischem Gebiet empört sich Bohrer darüber, dass der Tübinger Manfred Frank dem französischen Denker Lyotard ausgerechnet mit Schleiermacher zuleibe rückt: "Als ob man dem Pariser Intellektuellen nicht einen gegenüber dem deutschen romantischen Hermeneutiker erweiterten Erfahrungsgrund zubilligen müßte, nicht zuletzt im Existenziellen." Ein Schuft, wer daran auch nur zu denken wagt. Die geistige Hierarchisierung wiederholt sich, verkleinert zu graduellen Abweichungen in der Verkommenheit von Bildung und Wissen, auf der bundesdeutschen Achse: Dort Franz Josef Strauß, der, wiewohl er hartnäckig die Provinzialisierung des Staates betreibt, sich doch durch umfassende Kenntnisse auszeichnet und sich aufgrund seiner phililogischen Brillianz im Gedächtnis seiner Studienväter immer präsent war - hier Möllemann, der "Lehrer" ist und das zu allem Überfluß auch noch betont.

Nicht, dass eine solche Kopfwäsche nicht zur Neujustierung der routinierten Indifferenz unserer Selbstwahrnehmung taugte. In dieser Beziehung hat das Buch eine ungemein aufrüttelnde, ja kathartische Wirkung. Man muss auch gar nicht bestreiten wollen, dass unsere Republik in vielem etwas von der distinguierten Eminenz Englands oder dem funkelnden Esprit der Franzosen vermissen lässt. Was an Bohrers Abrechnung so frappiert, ist ihre Tendenz zur Totalität.

Titelbild

Karl Heinz Bohrer: Provinzialismus. Ein physiognomisches Panorama.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
168 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3446199241

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