Männer in der Glaubenskrise

Rainer Gross setzt mit „Kettenacker“ die Geschichte von „Grafeneck“ fort

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erfolg des 2007 erschienenen Krimis „Grafeneck“ von Rainer Gross ist vielleicht unerwartet, aber nicht unerklärlich. Eine unprätentiöse Kriminalgeschichte mit historischem Thema, vor allem wenn es das „Dritte Reich“ ist, hat einen solchen Erfolg auch verdient. Nun, nach fünf Jahren, kommt Rainer Gross auf „Grafeneck“ – und damit auf die Geschichte um den Euthanasiemord an der Schwester des Protagonisten Hermann Mauser zurück.

Die Geschichte um den Skelettfund in einer Höhle liegt dreizehn Jahre zurück, Mauser ist mittlerweile lange pensioniert, sein Mitermittler, Kommissar Geving ist gleichfalls gealtert. Beide Männer sind aber nicht nur älter, zugleich sind auch die Grundfesten ihres Weltbildes erschüttert. Dem Kriminalermittler ist der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes und des Rechts abhanden gekommen. Einmal alle Fesseln abwerfen und selbst strafen können, dieser Wunsch treibt ihn um. Denn gerecht geht es auf dieser Welt nicht zu, und dass irgendetwas davon Gottes Wille sei oder auch nur von ihm zugelassen werde, kann er immer weniger glauben.

Mauser muss sich gleichfalls von einigen sicheren Ecksteinen seiner Existenz verabschieden: Die Behinderung der Schwester, die zu ihrer Ermordung im NS-Euthanasieprogramm geführt hat, war vielleicht auch nur ein großer Irrtum. Denn Mauser stößt bei einem zufälligen Gang im Wald bei Kettenacker auf eine Kinderleiche, die, wie sich herausstellt, in den 1930er-Jahren missbraucht und ermordet wurde. Das Kind war die Spielgefährtin der Schwester, die von einem Ausflug mit dem nun aufgefundenen Kind völlig verstört nach Hause zurückkehrt und seit dem vom Nachtgrab fantasiert. Das „Leisle“ aber blieb verschwunden und wird nun, viele Jahrzehnte später aufgefunden.

Eine historische Jagd auf den Mörder mag wenig sinnvoll erscheinen. Für einen Mann, der sich in seinem schlechten Gewissen gegenüber der immer bevorzugten behinderten Schwester eingerichtet hat, und einen Kommissar, der den Glauben verloren hat, ist das aber genau der richtige Fall. Denn beiden kommt es nicht aufs Recht, sondern auf die Gerechtigkeit an. Und die zahlt nun mal mit großem Geld. Mit dem Leben oder wahlweise dem Tod. Auf jeden Fall ist ihr eigenes Strafmaß immer sehr viel grundlegender als das des Rechts. Und die Rechte des Täters sind nichts, was sie wirklich interessiert. Die Gerechtigkeit ist eine grausame Richterin, die nichts als verbrannte Erde hinter sich lässt.

Und genau diesen Fragen widmet Gross einen großen Teil seines Krimis. Denn der Täter – zumindest der wahrscheinliche Täter – ist bald herausgefunden. Es ist, wie könnte es auch anders sein, jemand mit Vertrauensstellung. Es ist außerdem jemand, der nach all den Jahren nicht mehr lebt. Insofern könnten die beiden Ermittler Ruhe geben, aber sie geben sie nicht. Denn in diesem Fall tritt die Gerechtigkeit als Wahrheit auf, die öffentlich gemacht wird.

Gross behandelt diese Themen sorgfältig und gewissenhaft, er lässt dafür sogar die Krimihandlung eine Weile beiseite und hört den beiden Männern zu, wie sie theologisieren und philosophieren und dabei immer betrunkener werden. Naheliegend ist die Selbstjustiz, kein Zweifel, auch gegen den letzten und einzigen verbliebenen Zeugen. Mauser zieht mit der Pistole los, während Geving die Zahnlosigkeit der Justiz erkennen muss. Ein Priester, der auch das Recht des Täters auf Reue und das Beichtgeheimnis höher stellt als die Wahrheit, muss nach heutiger Denkart zur Wahrheit gezwungen werden.

Aber darauf kommt es auch nicht einmal an, denn die Geschichte ist offensichtlich als Selbsterkenntnisprozess und als Reflexion von Recht und Gerechtigkeit angelegt, an deren Ende die Einsicht über die Unvollkommenheit des Rechts steht. Was allerdings die Vollkommenheit ihrer Wirkung zugleich demonstriert. Denn ohne dass es ausgesprochen wäre: Die historische Geschichte, vor deren Hintergrund „Kettenacker“ und „Grafeneck“ erzählt werden, ist das nationalsozialistische Unrechtsregime, in dem das Recht der Willkür gefolgt ist. Dahinter aber steht die Idee eines direkten Willens, der sich in die Tat umsetzt und so etwas wie Recht nicht braucht. Mit anderen Worten, die Frustration der beiden Männer weist in eine fatale Richtung. Nicht ihre Einsicht, sondern ihr Einhalten bewahrt sie am Ende davor, und das ist eben auch gut so.

Titelbild

Rainer Gross: Kettenacker. Krimi.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2011.
365 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783865322715

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