Mit Jean Paul auf der Bühne des Scheiterns

Michael Buselmeiers Theaterroman „Wunsiedel“ zeigt den Ernst der Schönheit und die Schönheit des Ernstes

Von Malte VölkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Völk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Buselmeier hat mit „Wunsiedel“ einen Roman geschrieben, der auf den ersten Blick recht unscheinbar wirkt. Nicht nur ist er nach einem kleinen Ort im Fichtelgebirge benannt, nicht nur schränkt der Untertitel „Theaterroman“ scheinbar zusätzlich den Wirkungsradius des Buches ein; auch der äußere Verlauf der Handlung scheint unauffällig und schnell erzählt: Ein junger angehender Schauspieler bekommt im Jahr 1964 sein erstes saisonales Engagement an der Naturbühne Luisenburg in Wunsiedel, wo er in schlechten Schelmen- und Volksstücken marginale Nebenrollen ausfüllt. Während dieses Sommers in der fränkischen Provinz geht es ihm nicht nur sehr schlecht, weil seine Adoleszenzkrise ihren Höhepunkt erreicht; zudem, oder als Ausdruck dessen, zerstieben auch seine auf die Theaterbranche ausgerichteten Zukunftspläne. Er scheitert am Theater – genau so gut könnte man aber auch sagen: das Theater scheitert an ihm, Moritz Schoppe, weil es seinen Ansprüchen an eine leidenschaftliche und unmittelbar in der Realität sich vollziehende Kunst nicht Genüge tun kann.

Dem Verfasser dieses Romans hingegen gelingt es vortrefflich, den untrennbaren Zusammenhang von Literatur mit dem gelebten Leben aufscheinen zu lassen. So kommt es, dass gerade die Einschränkung des settings, die unspektakuläre und auf kleinen Raum begrenzte Welt von Wunsiedel eine prächtige Entfaltung des Stoffes ermöglicht. Ein erster Hinweis darauf, eine direkte Verbindung zur Weltliteratur, steckt schon im Titel: Wunsiedel ist der Ort, in dem der große Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) geboren wurde, und zwar im Jahr 1763 (man würde dem vorliegenden Buch wünschen, dass es auch ein wenig von der zu erwartenden Jean-Paul-Aufmerksamkeit im 250. Jubiläumsjahr 2013 profitierte; verdient wäre es allemal).

Tatsächlich geht der ins Scheitern taumelnde Nachwuchsschauspieler, der die grobschlächtige „Bühnenhorde“ heroisch verachtet, in seiner sommerlichen Einsamkeit exzessiv der Lektüre Jean Pauls nach. Hier findet er ein Werk vor, dass ihm zwar manches Rätsel aufgibt, aber die so sehr gewünschte Intensität, die überquellende Fülle und die wilde Lebendigkeit der Kunst verkörpert; und befeuert durch das Identifikationsangebot, das der Aufenthalt im Geburtsort des Dichters bereit stellt, wird ihm Jean Paul schließlich zum „Nothelfer“. Dass er dessen Bücher von der untreuen Freundin mitgegeben bekommen, und diese darin auch noch ihre Lieblingsstellen markiert hatte, verleiht diesem Arrangement zusätzliche Intensität.

Es gibt in „Wunsiedel“ zwei gegeneinander wirkende, heimlich um Vorherrschaft ringende Kräfte. Das ist einmal die Melancholie des jungen Romanhelden Schoppe, die oft genug in blanke Verzweiflung umschlägt: eine intensive Mischung aus Frustration, Desillusionierung, Liebeskummer, Heimweh und Hass. Die schmerzliche Erfahrung des Scheiterns an der Außenwelt, das Schwanken zwischen narzisstisch gekränktem Rückzug und der theatralen Angriffspose gegen die dümmlichen Kunstverächter wird vollends zum emotionalen Höllenritt, als auch noch die Beziehung zu der im fernen Heidelberg weilenden Freundin Ulla per Brief zum Abbruch gelangt.

Doch steht dem entgegen die distanzierte Perspektive des 44 Jahre später erneut nach Wunsiedel reisenden Erzählers, der versucht, die Erfahrungen seiner eigenen Jugend heraufzubeschwören und als reifer Mann ihre Notwendigkeit, ihre lebensgeschichtliche Unausweichlickeit einzufangen, ohne doch den Schmerz pädagogisch zu lindern. Die reale Gefahr, bei lebendigem Leib gefressen zu werden – wie es einem Rebhuhn ergeht, das Schoppe im Wald findet – bleibt stets präsent. Überhaupt kommt das Buch völlig ohne pädagogischen Unterton aus. Auch enthält sich der Verfasser bedeutungsschwangerer Grübeleien und langweiliger, existentiell aufgeblähter Sinnsuchbewegungen, die in thematisch ähnlich gelagerten Büchern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur oft das Vergnügen an der Lektüre vereiteln. Es gelingt Buselmeier sogar, die herbe Schönheit der Landschaft, auch in ihrer Waldigkeit, zu evozieren, ohne den geringsten Anklang an düstere Innerlichkeit oder ontologisierende Verbrämungen.

Aus den zwei kunstvoll miteinander verwobenen gegenläufigen Perspektiven der unmittelbaren Ergriffenheit auf der einen und der reflexiven Erfahrungshaltung auf der anderen Seite entsteht eine untergründige Dynamik; eine Spannung, die das Buch trägt, und zwar sehr gut und sehr weit.

Die Sprache dieses Erzählers, des Autors, ist eine sehr klare, präzise und verdichtete. Dass sie gleichzeitig auch eine leichte, durch große Könnerschaft gelockerte und bewegliche ist, verleiht dem Roman seine Eigentümlichkeit, die man nur loben kann. Ein Beispiel: Es wird berichtet von einem der wenigen freundschaftstauglichen Schauspieler-Kollegen, selbst ein Außenseiter, der auf die verkommene und korrupte Theaterwelt schimpft. Das Referat dieser Psychopathologie der deutschen Nachkriegs-Theaterszene steigert sich kumulativ zu einer vernichtenden Beschimpfungsarie, die sich über mehr als zwei Seiten im unabgesetzten Konjunktiv erstreckt und dann beiläufig endet mit dem Satz: „Soweit Siegfried.“ Ein weiteres Beispiel für die außergewöhnliche sprachliche Gestaltungskraft mag die – in der Gegenwartsebene des gealterten Erzählers sich vollziehende – Beobachtung des Publikums einer musikalischen Darbietung im Kurpark von Alexandersbad darstellen. Wie sich hier die Alten, die Siechen und Gebrechlichen, die Moribunden und Umnachteten in einem riesigen Schwarm durch die gepflegte Parkanlage in Richtung der profanen Walzerklänge schleppen, um auf halbem Wege von einsetzendem leichten Regen wieder zurückgedrängt zu werden: das hat schon Baudelaire’sche, ja, beinahe Dante’sche Qualitäten.

Es wimmelt in dem Roman von wunderbaren Details, kleinen Szenen, Gesten, Nebenfiguren und Gedanken – darin ähnelt „Wunsiedel“ dem Werk Jean Pauls, ohne doch je in die Nähe des Epigonalen zu geraten, weil der Stil dann doch völlig unterschiedlich ist. Die innere Verwandtschaft, die Korrespondenz dieses Romans mit dem Werk Jean Pauls ist komplexer und vielschichtiger als es hier angedeutet werden konnte (so ist zum Beispiel der Romanheld Schoppe nach einer Figur benannt, die bei Jean Paul in verschiedenen Werken zentrale Rollen spielt – und die nach Max Kommerell eine Verbindung des Dichters mit Friedrich Nietzsche markiert). Doch die Dialektik von Kleinheit und Vergrößerung, von Enge und Weite, die mit der Aufmerksamkeit fürs Detail einher geht, der „Fensterblick ins All“ (Helmut J. Schneider), das ist eine Spur von Jean Paul, der Buselmeier am deutlichsten folgt und die er gültig aktualisiert. Dass ein solcher mikrologischer Blick im streng mathematischen Sinne und in der Analogie zum Mikroskop überhaupt keine Vergrößerung darstelle, sondern die Zurücknahme einer von der optischen Brechung geleisteten Verkleinerung, hat Jean Paul einmal in einer Fußnote ausgeführt: „da jede Mücke unter dem Mikroskop die enthüllten Äderchen u.s.w. und deren Verhältnisse wirklich hat, die jenes zeigt: so wird sie ja darunter nicht vergrößert, sondern nur weniger verkleinert gezeigt […]. Es gibt also auf der Erde gar keine Vergrößerung, sondern nichts als Verkleinerungen.“ Der Roman „Wunsiedel“ leistet die Darstellung einer Erfahrung des Scheiterns als Erfahrung, und im letztgenannten Detail liegt eben eine solche Zurücknahme von Verkleinerung.

Titelbild

Michael Buselmeier: Wunsiedel. Ein Theaterroman.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2011.
158 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783884233627

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