Vom Verlust der Kindheit

Sonya Winterberg erinnert in ihrem Buch „Wir sind die Wolfskinder“ an das Schicksal ostpreußischer Kinder, die nach 1945 in Litauen strandeten

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch für Geschichtsinteressierte gibt es in der neueren Geschichte immer wieder noch ‚Entdeckungen‘ – vergessene Geschehnisse, Orte und Menschen, die auf ihre Zeit der Aufarbeitung erst warten müssen. Oft verbinden sich solche vergessenen Geschichten in der Historie mit menschlichen Schicksalen. Auf diese Schicksale aufmerksam zu machen, ist dann bereits ein erstes Verdienst derjenigen, die Dunkel in das Vergessen bringen. Das trifft auch auf das vorliegende Buch „Wir sind die Wolfskinder“ der Journalistin Sonya Winterberg zu. Sie rückt das Schicksal jener Menschen in den Mittelpunkt, die 1944/1945 als Kinder die Flucht aus Ostpreußen vor der heranrückenden sowjetischen Armee erlebten. Im großen Chaos der Flucht verloren viele dieser Kinder unter schrecklichen Umständen ihre Eltern und sonstigen Angehörigen. Sie sahen sie sterben oder wurden von ihnen getrennt. „Wolfskinder“ nannte man sie, weil viele von ihnen in den Wäldern zu überleben versuchten.

Sie versuchten sich nach Litauen durchzuschlagen. Litauen, das „Brot- und Kuchenland“, wie sie sich erzählten, sollte Schutz und Unterkunft bieten. Tatsächlich waren es zumeist litauische Bauern, die die Kinder aufnahmen. Das geschah nicht immer uneigennützig, die Kinder mussten arbeiten, aber sie konnten überleben. Manche wurden auch adoptiert. Es galt zu vertuschen, dass es sich um deutsche Kinder handelte. Auch sie galten in der Sowjetrepublik als feindliche „Faschisten“ – und mit Strafe musste rechnen, wer sich mit ihnen einließ. So wurden viele der Wolfskinder zu Litauern. Es war kein leichtes Leben, das sie führten, in großer Armut zumeist, viele blieben ohne Schulbildung, verlernten ihre Sprache. In Deutschland vergaß man sie. Sie verschwanden auch aus den Karteien der Suchdienste.

Erst mit dem Zusammenbruch der sowjetischen Machtherrschaft und der Unabhängigkeit Litauens geriet das Schicksal der Wolfskinder wieder in Erinnerung. Nun schien es endlich möglich, das eigene Schicksal zu thematisieren und auch wieder eine Verbindung nach Deutschland aufzubauen. Doch der deutsche Staat und seine Bürokratie tat sich lange schwer mit den Wolfskindern. Weil sie ihr „Deutschtum“ nicht nachweisen konnten, blieb ihnen die Einreise, wie sie so vielen anderen „Russlanddeutschen“ möglich war, verwehrt. Eine Lobby hatten sie nicht. Hilfe kam einstweilen nur von privater Seite.

Sonya Winterberg hat die noch lebenden Wolfskinder in Litauen aufgesucht, sich ihre Geschichten angehört und sie aufgeschrieben. Alle diese Geschichten beginnen in Ostpreußen, das in der Erinnerung der alten Menschen zu einem untergegangenem Idyll verklärt ist. In dieses Idyll brach der Krieg mit schrecklicher Grausamkeit ein. Auf den Flüchtlingstrecks, die sich aus Angst vor den vorrückenden sowjetischen Soldaten Richtung Westen bewegten, erlebten die Kinder unmittelbar mit, wie ihre Mütter, Geschwister oder andere Angehörige durch Gewalt, Erschöpfung und Hunger umkamen oder von ihnen getrennt wurden. Sie erzählen, wie sie sich nach Litauen durchschlagen konnten, wo ein Weiterleben möglich war. Der Dank an die Litauer ist ehrlich, aber immer blieb der traumatische Schmerz das Gefühl des Verlorenseins, der Einsamkeit. Die Geschichten enden mit der zum Ausdruck gebrachten Hoffnung, ihre Leidensgeschichte werde nun anerkannt und Deutschland nehme sich ihrer an.

Einige der Menschen, die diese traurigen Geschichten erzählen, hat die Fotografin Claudia Heinermann porträtiert. Die Porträts sind von großer Eindringlichkeit. Sie zeigen Antlitze von alten Menschen, denen das Leben hart mitgespielt hat. Keine feinen Gesichtszüge, sondern schwere, erschöpfte Gesichter. Aber zugleich auch ist in den Gesichtern ein schüchternes zuweilen verschmitztes Lächeln zu entdecken. Dahinter meint man eine kindlich-naive Unmittelbarkeit entdecken zu können. Eine Freude darüber, dass sie angehört werden, dass so ihre Kindheit wiederbelebt wurde. Diese Menschen klagen nicht an. Aber ihre Gesichter und ihre Geschichten fordern heraus: Schaut auf uns! Erinnert Euch!

Titelbild

Sonya Winterberg: Wir sind die Wolfskinder. Verlassen in Ostpreußen.
Piper Verlag, München 2012.
320 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783492055154

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