Erzieher der Moderne

Winfried Böhm und Michael Soëtard stellen anhand einschlägiger Texte den Pädagogen Rousseau vor

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Jahr feiern wir nicht nur den 300. Geburtstag Friedrichs des Großen, sondern auch den Jean-Jacques Rousseaus. Steht jener für eine Philosophie, die sich neben dem machtpolitischen Alltag eines Monarchen Bahn bricht, so steht dieser für eine bedeutende philosophische Theorie der Erziehung, die für die abendländische Pädagogik eine gewisse Zäsur darstellt. Rousseaus Beitrag zur Erziehungswissenschaft wurde bereits dreißig Jahre nach seinem Tod von der nachrückenden Pädagogengeneration als „Wendepunkt der alten und neuen Welt der Pädagogik“ (Pestalozzi) betrachtet. Zugleich gilt er in der Ideengeschichte als ein geistiger „Vater der modernen Welt“ (Maritain).

Ausgehend von der These, man könne die Entwicklung der Pädagogik in eine Epoche vor und eine nach Rousseau aufteilen, skizzieren Winfried Böhm und Michael Soëtard, beide ausgewiesene Rousseau-Experten, ihr Bild des bis heute viel und kontrovers rezipierten Denkers. Die Rousseau zugeschriebene Rolle für die historische Analyse der pädagogischen Konzepte scheint eine gewagte Heuristik darzustellen. Doch Böhm / Soëtard gelingt es, die überragende Bedeutung des Jubilars anhand der ausgewählten Quellentexte nachvollziehbar aufzuweisen. Insbesondere zwei Gedanken Rousseaus sind wegweisend: Erziehung ist keine Tatsache, sondern ein Projekt, keine Realität, sondern ein Traum. In Zeiten wie unseren, in denen man nach leicht umsetzbaren pädagogischen Rezepten ausspäht und wohlfeile Erziehungsratgeber die Regale füllen, ist dies eine entscheidende Botschaft an Lehrer, Erzieher und Eltern.

Das vorliegende Buch ist zweigeteilt. Einer etwa ein Drittel des Textumfangs einnehmenden Einführung in das pädagogische Werk Rousseaus folgen ausgewählte Texte, aus denen Methodik, Intention und Wirkung des rousseauschen Projekts hervorgeht. Zudem wird sein Verhältnis zum Christentum ausführlich gewürdigt. Die Quellen werden jeweils noch einmal kurz eingeleitet, insbesondere werden philologische Hinweise gegeben, die eine Orientierung erleichtern. Zentral ist Rousseaus berühmter Erziehungsroman „Emil“, doch auch unbekanntere Texte werden vorgestellt beziehungsweise philosophische Abhandlungen auf ihre pädagogische Bedeutung hin untersucht. Die von Böhm und Soëtard erschlossenen Quellen geben auch dem Laien einen ersten Eindruck vom epochalen Beitrag Rousseaus zur Pädagogik.

Sorgfältig arbeiten Böhm und Soëtard den Grundgedanken Rousseaus heraus: Die Erziehung habe gemäß der Natur gestaltet zu werden, was bedeutet, einen altersgerechten pädagogischen Stufenplan zu entwickeln, eine normative Idee, die später von der Entwicklungspsychologie bestätigt werden sollte. Dementsprechend sieht Rousseau Lehrer und Erzieher als „Gehilfen der Natur“ und als „Diener der natürlichen Entwicklung des Kindes“. Sie werden zu Begleitern eines ohnehin naturgemäß vorhandenen Lerndrangs, Beobachtern, die bloß die Rahmenbedingungen der Entwicklung festlegen und Anreize für kognitiven Fortschritt und persönliche Reifung geben (ein Gedanke, der später von Montessori aufgegriffen wird). Zentral ist dabei die Zufriedenheit des Kindes mit dem Lern- und Entwicklungsprozess selbst, das „Glück in der Gegenwart“, deren Instrumentalisierung zugunsten der „ungewissen Zukunft“ Rousseau als „barbarische Erziehung“ zurückweist.

Um dieses Glück zu ermöglichen, müsse, so Rousseau, die Erziehung stets den ganzen Menschen berücksichtigen, die ganze Person ansprechen, „die denkende, die fühlende und die tätige“. Die Pädagogik, die Kopf, Herz und Hand zusammenführt, illustrieren Böhm und Soëtard anhand eines Auszugs aus „Emil“, in dem der Zögling nach gescheiterter akademischer Unterweisung auf einem Waldspaziergang den Nutzen der Astronomie für die Orientierung zu schätzen lernt. In der Zusammenführung von Theorie und Praxis erwächst die Erkenntnis, die Astronomie sei „doch zu etwas gut“, eine Einsicht, die der Schüler selbst gewinnt, aus eigener Erfahrung und unter Einsatz sokratischer Mäeutik, und die er daher „sein Leben lang nicht vergisst“, wie Rousseau bemerkt. Den Lehrkräften rät er daher, sie mögen „durch Handlungen reden und nur sagen, was man nicht machen kann“ – soviel „Kopf“ wie nötig, soviel „Hand“ wie möglich. Hinzu tritt das emotionale Motiv („Herz“), dass zur Verinnerlichung des Lehrstoffs beiträgt (Emil und sein Gouverneur haben Durst und Hunger und wollen schnell aus dem Wald heraus, in die nächstgelegene Stadt). Rousseaus holistische Pädagogik stärkt die Naturanlage des Menschen: seine Selbstbildungskraft.

Winfried Böhm und Michael Soëtard zeigen dem Leser einen hochaktuellen Pädagogen, einen „Seher und Träumer“, ohne dessen widersprüchliche oder problematische Facetten auszublenden. Sie führen verständlich und nachvollziehbar in das Gedankengut Jean-Jacques Rousseaus ein und heben wesentliche Züge seiner Erziehungswissenschaft anhand ausgewählter Texte hervor – eine gelungene Einführung in das Werk des Genfers, der Philosophie, Psychologie und Pädagogik zu einer anthropologisch grundierten Lehre gelingenden Lernens und Lebens bündelt und damit der modernen Erziehungswissenschaft einen elementaren Merksatz ins Stammbuch schreibt: Die Entwicklung des Menschen zu befördern, gelingt nur unter Beachtung seiner Natur.

Titelbild

Winfried Böhm / Michael Soëtard: Jean-Jacques Rousseau, der Pädagoge. Einführung mit zentralen Texten.
Schöningh Verlag, Paderborn 2012.
149 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783506772084

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