Ein Text, den Leser gefährlich machten

Über Christopher Krebsens Versuch, die Geschichte der Rezeption von Tacitus’ „Germania“ nachzuerzählen

Von Benno KirschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benno Kirsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Person oder ein Ereignis in ihren/seinen Wirkungen und Wahrnehmungen durch die Jahrhunderte nachzuverfolgen, scheint es, ist „in“. Mischa Meier und Steffen Patzold etwa nehmen sich die Wirkungsgeschichte des Falls von Rom 410 vor, Tillmann Bendikowski widmet sich in seiner Friedrich-Biografie auch dem Nachleben des Preußenkönigs. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit Christopher Krebs und seinem Buch über die Rezeption des Klassikers über „die Deutschen“, der „Germania“ des Tacitus (58 bis ca. 120). In dem plausibel strukturierten Text berichtet er über die Entstehung der Germania aus dem Geist der Krise Roms, rekonstruiert ihre Wiederentdeckung durch die Humanisten am Vorabend der Moderne und lotet ihre Bedeutung für das moderne Selbst- und Fremdbild der Deutschen bis ins 20. Jahrhundert aus.

Nach Krebsens Ritt durch die Jahrhunderte bleibt der Leser gesättigt mit vielen Informationen nicht nur über die „Germania“zurück, sondern auch über die Zeit, in der sie aus unterschiedlichen Gründen eine Rolle spielte, und die Menschen, die sich mit ihr beschäftigten. Er zeigt, wie das Manuskript entstand, verloren ging, wiederentdeckt, verbreitet, entstellt, umkämpft, rezipiert und missbraucht wurde. Bücher haben ihre Schicksale, und das der „Germania“ ist es, seinen Beitrag zur Entstehung oder Erfindung oder Selbstvergewisserung der Deutschen und ihrer Nation beigetragen zu haben.

Leider handelt es sich durchaus um so schwere Kost, dass sie einem manchmal schwer im Magen liegen bleibt, weil Krebs Sprünge durch die Zeiten macht, die den durchschnittlich aufmerksamen Leser überfordern. Zum Beispiel erwähnt er in einem Abschnitt über die 1935 gegründete Organisation „Das Ahnenerbe“ und bringt dabei Details der Jahre 1939 und 1943, springt dann aber zurück ins Jahr 1901, um von dort einen Bogen in die Renaissance und die Klassik zu schlagen, um dann wieder in der NS-Zeit zu landen – und das alles auf nur zwei Seiten.

Entstanden ist die „Germania“ im von Diktatur und Bürgerkrieg gebeutelten Römischen Reich, wo der vermeintlich wissenschaftliche Blick auf die Stämme nördlich des Limes der Kritik an den heimischen Zuständen diente. Seit ihrer Wiederentdeckung wurde sie aber immer wieder neu gelesen und in einem jeweils neuen Kontext interpretiert. Auf diese Weise erhielt sie eine Bedeutung, mit der der Autor nicht rechnen konnte, und entwickelte sich zu einer Art „Gründungsurkunde“ der Deutschen. Doch nicht nur identifizierten sich die nach ihrer Nation suchenden Deutschen mit ihr, sondern auch andere Völker nutzten sie, um die Deutschen darin zu ‚erkennen‘.

Desgleichen taten auch die Nazis. Für sie waren die Germanen eine geeignete Projektionsfläche, um ihre antihumanistischen Ideale zu propagieren und besonders der Jugend in entsprechend aufbereiteten Schulbüchern nahezubringen. Das „Germanentum“ spukte in den Köpfen zahlreicher Nazis herum, insbesondere denen der SS-Mitglieder, die sogar versuchten, die eklektische NS-Weltanschauung „wissenschaftlich“ zu fassen. Für entsprechend wichtig hielt man deshalb auch das erste vermeintlich authentische Zeugnis über die Deutschen. So wichtig, dass Himmler alle Hebel in Bewegung setzte, um das Originalmanuskript in seine Hände zu bekommen, was allerdings misslang.

Angesichts der zentralen Stellung, die der Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte einnimmt, ist es durchaus naheliegend, dass Krebsens Buch mit der Schilderung des Versuchs eines SS-Trupps beginnt, das Manuskript in Italien zu finden, und zwar Trotz des Näherrückens der alliierten Front. Leider führt dieser reißerische Beginn den Leser in die Irre, was der Autor allerdings erst auf der letzten Seite enthüllt. Tacitus hatte nämlich mit den Nazis so wenig zu tun wie andere, die von ihnen für ihre Ideologie vereinnahmt wurden, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten. Dennoch täuscht Krebs am Beginn einen derartigen Zusammenhang an, nur um dann mit dem Satz zu enden, der wie Hohn klingt: „Schließlich schrieb nicht der römische Historiker ein höchst gefährliches Buch; dazu machten es erst seine Leser“. An diesem Punkt fühlt sich der Leser von Krebs auf den Arm genommen – ein ärgerlicher Schluss.

Dass es soweit kommen musste, ist aber erklärlich. Denn Krebs ist nicht nur ein guter Historiker, sondern er weiß auch, wie wichtig das richtige Marketing heutzutage ist. Einerseits hat er ein gutes Buch über die „Germania“ und ihre Rezeption bis ins 20. Jahrhundert geschrieben, andererseits hat er diese Darstellung unzulässigerweise ganz auf den nationalsozialistische Rezeption hin komponiert. Den entsprechenden Preis war er offenbar zu zahlen bereit: Die „Germania“-Rezeption der Nachkriegszeit hat er schnöde in das Nachwort verbannt, obwohl aus den wenigen Seiten zu Heinrich Böll erkennbar ist, dass hier ein anführenderes Kapitel angemessen gewesen wäre.

Titelbild

Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch. Die "Germania" des Tacitus und die Erfindung der Deutschen.
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Pfeiffer.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
348 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783421042118

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