Von der Vielfalt der Emotionen

Ein Münchner Sammelband lädt ein zu einer Entdeckungsreise durch das Themenfeld Emotion – Sprache – Literatur

Von Nina PeterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Peter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lassen sich extreme emotionale Erfahrungen in Worte fassen? Wie werden Emotionen sprachlich kodiert, konzeptualisiert oder gar erst hervorgebracht? Welche Artikulationsmuster und -konventionen stellt das kulturelle Repertoire unterschiedlicher Zeiten für die Kommunikation emotionaler Grenzerfahrungen zur Verfügung? Und welche innovativen und unkonventionellen Ausdrucksformen finden sich in der Literatur? Diesen Fragen widmet sich ein 2011 erschienener Sammelband mit dem Titel „Emotionale Grenzgänge“, der aus einer gleichnamigen Konferenz der Reihe „language talks“ an der LMU-München im Oktober 2009 hervorging. Der von Lisanne Ebert, Carola Gruber, Benjamin Meisnitzer und Sabine Rettinger herausgegebene Band macht es sich zur Aufgabe, den vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten und Konzeptualisierungen von Emotionen in Sprache und Literatur nachzugehen und fragt dabei nach Grenzen sprachlicher Kommunikation, aber auch nach dem grenzüberschreitenden Ausdruckspotential von Sprache und Literatur. Siebzehn literatur-, kultur- und sprachwissenschaftliche Beiträge untersuchen sprachliche und literarisch-ästhetische Antworten auf emotionale Grenzerfahrungen.

Den Band charakterisiert seine durchaus intendierte Vielfalt, die nicht nur die Untersuchungsgegenstände der einzelnen Beiträge – von mittelalterlichen Sterbebüchlein über Nachrichten in Boulevardzeitungen bis hin zu frühkindlichem Spracherwerb und Sprachstörungen –, sondern auch ihre methodischen Ansätze betrifft. Diskursgeschichtliche Analysen treffen auf psychoanalytisch fundierte Lektüren, die Untersuchung der Konzeptualisierung kollektiver Emotionen in politischen Umbruchssituationen steht neben der Analyse der individuellen literarischen Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen. Die Zusammenstellung der Beiträge zeigt vor allem eins: die Weite und Komplexität des Themas des Bandes, der keinen systematischen Überblick über Ansätze und Methoden wissenschaftlicher Forschung zu Emotion, Sprache und Literatur bieten kann, sondern vielmehr zu einer Entdeckungsreise durch Themen, Texte und Analyseverfahren einlädt. Ordnung in die Vielfalt der Ansätze und Untersuchungsgegenstände bringen die Emotionen selbst – drei Emotionen sind es, auf die sich der Band konzentriert und die zugleich die Anordnung der Aufsätze bestimmen: Liebe, Trauer und Angst. Ergänzt werden die Einzelanalysen zu den drei Emotionen und ihren unterschiedlichen sprachlichen Repräsentationen durch drei theoretisch-methodologische Aufsätze.

Reinhard Fiehler entwirft als Antwort auf die große Frage „Wie kann man über Gefühle sprechen?“ ein Kategoriensystem sprachlicher Mittel des Ausdrucks von Emotionen. Dass sich Äußerungen über Erlebnisse und Emotionen jedoch oft der eindeutigen Kategorisierbarkeit entziehen, macht der abschließende Teil des Beitrags deutlich: so sei der Erlebens- und Emotionswortschatz einer Sprache gerade nicht eindeutig abgrenzbar, da Äußerungen häufig ein ganzes Konglomerat unterschiedlicher Bedeutungskomponenten beinhalten. Die Formulierung allgemeiner Regeln zum Emotionalisierungspotential von Texten macht sich auch Thomas Anz zur Aufgabe. Am Beispiel unterschiedlicher literarischer Todesszenarien veranschaulicht Anz, wie spezifische narrative Konstellationen einen begrenzten Rahmen potentieller Emotionen eröffnen, von denen – abhängig von literarischer Gestaltung einerseits und individuellen mentalen Ergänzungen der Leser andererseits – wiederum nur einige zum Tragen kommen. Beide Beiträge bleiben trotz ihrer Suche nach verallgemeinerbaren Regelformulierungen offen für Sprach- und Textphänomene, die sich nicht in Regeln und Kategorien fassen lassen und sensibilisieren damit nicht nur für die Möglichkeiten, sondern auch für die Grenzen einer systematischen Erfassung der Relationen zwischen Emotionen, Sprache und Literatur.

Ulrike M. Lüdtke fasst in ihrem Aufsatz Ergebnisse verschiedener Fächer über den Einfluss von Emotionen auf die kindliche Sprachentwicklung zusammen. Sind Emotionen als konstitutiv für den Aufbau einer sprachlichen Identität zu verstehen, so lässt sich umgekehrt das Verhältnis von Sprache und Emotion gerade mit Blick auf die Grenzerfahrung der Sprachstörung beleuchten. Als Personifikation der Brüchigkeit der Sprache – ein Konzept, das Lüdtke in Anlehnung an Julia Kristevas Kritik am rationalistischen Sprachbegriff des ‚Logos‘ entwickelt – seien Menschen, deren Sprachgebrauch von der gesellschaftlichen Standardsprache abweicht, in der Peripherie des gesamtgesellschaftlichen Zeichenraums zu verorten. Von der Norm abweichender Sprachgebrauch (Lüdtke zählt hierzu beispielsweise die Sprache marginalisierter Jugendlicher) sei in besonderer Weise affektgeladen, da er die ‚Vulnerabilität des Logos‘ vor Augen führt, und würde daher häufig ausgegrenzt.

Schon diese drei Texte machen die Fülle möglicher Annäherungen an die Frage nach dem Verhältnis von Emotion und Sprache deutlich. Produktive Querverbindungen zwischen einzelnen Aufsätzen ergeben sich dennoch, so zum Beispiel im Kapitel zur Liebe. Überzeugend argumentiert Melanie Henkes ihre Lektüre von Goethes „Werther“ als Geburtsstunde unserer heutigen Liebeskonzeption. Goethes Text reagiere auf den mit der Aufklärung einhergehenden Verlust metaphysischer Gewissheiten durch die ‚Erfindung‘ der romantischen und leidenschaftlichen Liebe als neue Sinnstiftungsinstanz für das auf sich selbst zurückgeworfene Individuum – ein Liebesverständnis, das auch in unserer heutigen Gesellschaft ungebrochen wirksam ist. Jens Kloster untersucht die Fortschreibung dieses modernen Liebeskonzepts in zwei Texten von F.R. Fries, die einerseits die Unvereinbarkeit von entgrenzender, leidenschaftlicher Liebeserfahrung und Alltag, andererseits die Imagination und Konstruktion der Geliebten zum Thema machen. Der Beitrag analysiert, wie Dichtung und Liebe als Imaginationsprozesse von Fries parallel geführt werden, der damit den romantischen, passionellen Liebesdiskurs zugleich fortschreibt und seine kulturellen und individuellen Konstruktionsmechanismen zum Thema macht. Auch Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ entwirft, so macht Rebekka Schnells Beitrag deutlich, eine enge Verbindung zwischen Literatur und Liebe. Das Romanfragment deute Liebe als ästhetische und religiöse Utopie, die ein ‚anderes‘, ganzheitliches und sinnhaftes Welterleben ermögliche und damit allerdings ihren Platz nicht im Alltag, sondern in der Kunst habe.

Alexander Brehm schlägt in seinem Beitrag eine Strukturanalogie zwischen Liebe (als Versöhnung der Pole von ‚Selbst‘ und ‚Anderem‘) und Text (konstituiert durch den materialisierten Pol des ‚Textes‘ und den sinnlichen Pol des Vollzugs der Aussage) als Begründung für Produktion und Rezeption von Liebesgedichten vor. Ebenso wie die zweite These – die für die Liebe charakteristische psychische Zustandsänderung werde durch Gedichte für den Leser nachvollziehbar – überzeugt diese Überlegung weder als spezifisches Charakteristikum literarischer Darstellungen der Liebe, noch als spezifisches Merkmal lyrischer Texte.

Dass Affekte jenseits der semantischen Dimension eines Textes in der Prosodie manifest werden können, zeigt Kathrin Bethke am Beispiel der Lyrik Emily Dickinsons. Unter Rückgriff auf psychoanalytische Überlegungen zur Trauer deutet sie den Rhythmus der Gedichte Dickinsons als Raum der Latenz, in dem unbewusste Triebe, Wünsche und Affekte spürbar gemacht werden können, ohne explizit in Worte gefasst zu werden. Welchen Mustern massenmediale Todesdarstellungen folgen, fragt Christian Schütte in seinem Beitrag. Ohne ausdrücklich auf Anz Bezug zu nehmen, differenziert auch Schütte zwischen unterschiedlichen, für die Boulevardpresse charakteristischen Todesszenarien und stellt fest, dass die Emotionen Angst und Trauer trotz der Omnipräsenz des Todes in der Boulevardpresse nur selten adressiert werden. Stattdessen lässt sich ein narratives Muster beobachten, das zunächst Besorgnis und Furcht vor konkreten Gefahrensituationen auslöst, letztendlich aber auf eine Beruhigung des Lesers hinausläuft. Eva-Maria Schertler beteiligt sich am Trauer-Kapitel mit einer Untersuchung des Motivs der Geschwistertrauer in Gegenwartstexten; Helge Skirl zeigt auf, dass Metaphern eine zentrale Rolle für die Verbalisierung der Grenzerfahrung des Holocaust spielen.

Mit literarischen Texten befassen sich drei der sechs Beiträge im Kapitel zur Angst. Christoph Steier liest Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Tragödie „Ugolino“ (1768) als Versuchsanordnung zur Beantwortung der Frage, inwieweit Emotionen in Sprache zu überführen sind. Es sei jedoch weniger die Sprache selbst, auf die sich Gerstenberg für die Emotionsdarstellung verlasse, als vielmehr ein Protokoll von Körperzeichen: die Emotionen einer Figur werden jeweils durch eine zweite in Form eines ‚gesprochenen Blicks‘ wiedergegeben. Steier beschreibt dieses Darstellungsverfahren treffend als eine Teichoskopie der Empfindungen. Claudia Hillebrandt veranschaulicht, dass die Deutung von Leo Perutz’ Text „Der Meister des jüngsten Tages“ (1923) in hohem Maße davon abhängt, welches der beiden vom Text entworfenen konkurrierenden Angstmodelle dem Leser als plausibler einleuchtet. Der Text erschwert eine eindeutige Festlegung und gibt durch seine Polyvalenz die thematisierte Unsicherheit an den Leser weiter. Eine Affektlosigkeit bei gleichzeitiger totaler Annäherung attestiert Daniel Graziadei Robert Bolaños Roman „2666“ (2004). Auch wenn Martin Koppenfels’ Modell eines immunen affektlosen Erzählers auf Bolaños Erzählweise übertragbar sei, so mache der häufige Perspektivwechsel, und die Annäherung des Textes an die beschriebenen Frauenmorde im Grenzgebiet von Mexiko und den USA für den Leser eine stabile Identifikation mit der emotional distanzierten Erzählweise unmöglich und schlage um in eine ‚erlesene Angst‘.

Mit unterschiedlichen politischen Umbruchsituationen beschäftigen sich zwei Aufsätze des Angst-Kapitels: Lars Bullmann beschreibt, wie Edmund Burkes „Reflections on the Revolution in France“ (1790) das durch koloniale Einbildungskraft hervorgebrachte Bedrohungsszenario des Kannibalismus auf innereuropäische Entwicklungen überträgt. Überzeugend veranschaulicht der Beitrag, wie Burkes ‚Manifest der Angst‘ das Kannibalismus-Motiv in der Beschreibung der Französischen Revolution zum Einsatz bringt und sie als Bedrohung für den symbolischen politischen Körper inszeniert. Dass der Begriff des Kannibalismus allerdings nur in der deutschen Übersetzung und nicht im Originaltext der „Reflections“ aufzutauchen scheint, führt zur Frage, ob nicht diese Übersetzung und die diskursive Verschiebung zwischen englischem und deutschem Text mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Andreas Rothenhöfer veranschaulicht am Beispiel der diskursiven Rahmung des Kriegsendes in Deutschland, dass politische Gedenkhandlungen und der öffentliche Diskurs über kollektive Grenzerfahrungen diese mit sprachlichen Mitteln emotional kodieren und symbolisch modellieren. Rothenhöfers Untersuchung der unterschiedlichen Bezeichnungen des Kriegsendes zeigt auf, wie eine linguistisch reflektierte Mentalitätsgeschichte die Entstehung und Formung kollektiver Emotionen analysierbar macht.

Mit Anleitungen für den Umgang mit der Angst angesichts des Todes beschäftigt sich Claudia Resch. Ihre Untersuchung reformatorischer Sterbebüchlein des 16. Jahrhunderts zeigt, wie Lehre und Emotion in den seelsorgerischen Texten ineinander übergehen: Sie liefern nicht nur theologischen Trost, sondern machen es sich zum Ziel, in ihrem affektbetonten, hörerbezogenen Sprachduktus auch unmittelbar auf die Emotionen des Sterbenden einzuwirken.

Zusammengenommen leisten die Beiträge des Bandes eine breit gefächerte Erkundung des Emotions-Themas, nicht geleistet wird hingegen ein systematischer Überblick über die verschiedenen methodischen Ansätze, die sich mit dem Verhältnis von Emotionen, Sprache und Literatur beschäftigen. Der weite Begriff der – zudem im Plural gefassten – ‚emotionalen Grenzgänge‘ liefert die Vorlage für vielfältige, teils innovative Fragestellungen, die ganz unterschiedliche Text- und Sprachphänomene in den Blick nehmen und mit verschiedenen Emotions-Konzepten operieren. Emotion ist nicht gleich Emotion, das machen die Beiträge deutlich, und lassen zugleich auf weitere sprach- und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dieser Thematik hoffen. Denn dass zum Thema Emotion, Sprache und Text längst nicht das letzte Wort gesprochen und die letzte Frage gestellt ist, liegt spätestens nach der Lektüre des anregenden Bandes auf der Hand.

Kein Bild

Maria Ebert / Carola Gruber / Benjamin Meisnitzer / Sabine Rettinger (Hg.): Emotionale Grenzgänge. Konzeptualisierungen von Liebe, Trauer und Angst in Sprache und Literatur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011.
344 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783826043321

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch