Zeitloses Meisterwerk neu aufgelegt

Friedhelm Rathjen übersetzt James Joyce ersten Roman

Von Juan SolRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juan Sol

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

James Joyce ist jetzt Allmende, zumindest rechtlich gesehen. 70 Jahre nach seinem Tod wurde sein Werk nun als gemeinfrei deklariert. Pünktlich hierzu liefert der Manesse Verlag eine Neuübersetzung von Joyces erstem Roman „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ (englisch „a portrait of the artist as a young man“). Der Künstlerroman um den jungen Stephen Dedalus wurde zuletzt 1972 von Klaus Reichert bei Suhrkamp übersetzt. Nun wagte sich Friedhelm Rathjen, der durch seine kontroverse Übersetzung von „Moby Dick“ bekannt wurde, auf Basis der textkritischen Garland-Ausgabe von 1993 an das Meisterwerk heran.

Joyce selbst datiert den Text am Ende des Romans mit „Dublin 1904“ und „Triest 1914“, wobei diese Zeitspanne keineswegs die reine Produktionszeit markiert, sondern vielmehr Eckpfeiler der Entstehungsgeschichte, von der Grundidee bis zum Druck. Ein Jahr lang schrieb Joyce zunächst 25 der 63 geplanten Kapitel für ein Projekt, das den Titel „Stephen der Held“ (englisch „Stephen Hero“) tragen sollte. Das Buch sollte eine Art Bekenntnis sein, eine Rechtfertigung seiner Selbst gegenüber der Kirche, gegenüber Irland und der Literatur. Doch die Arbeit wollte nicht recht gelingen, Joyce war unzufrieden und so blieb das Werk ein Fragment. Stattdessen wollte er nun ein stärker fiktionalisiertes Buch schreiben, das lediglich autobiografische Anleihen aufwies. Dies war die eigentliche Geburtsstunde von „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“.

Der Roman erzählt auf unnachahmliche Art und Weise den Reifeprozess und das Ausbilden der Identität des Iren Stephen Dedalus, dem Alter Ego von Joyce. Vom kleinen Buben, dem sein Vater die Geschichte der Muhkuh und Baby Tuckuck erzählt, zu dem Stephen Dedalus, der uns zu Beginn von „Ulysses“ als moderner Telemachos begegnet. Es ist dabei die schier unheimliche Nähe von Inhalt und Sprache, die den Roman so prägt und einzigartig macht. Das personale Erzählen wird hier auf die Spitze getrieben. Form- und Zeitebenen der Szenerien verlaufen wie ein Ölfilm vor dem inneren Auge des Lesers, bis er beginnt, die Dinge wie Stephen wahrzunehmen, „die vor seinem Geist herumspukten“. Auf engstem Raum blendet Joyce naheliegende Vergangenheiten – vielleicht nur die Tätigkeiten eines Tages – übereinander und schafft so nichts Geringeres als eine immense Collage der Jugend, ein umfassendes Bild eines Heranwachsenden.

Das Mittel, mit dem Joyce all dies gelingt, ist der von ihm später in „Ulysses“ perfektionierte Bewusstseinstrom (stream of consciousness), welcher den gesamten Text färbt. Im Strom verschwimmen Erinnerung, Gegenwart und Gefühl, die – ähnlich wie bei Proust – durch bestimmte Reize ausgelöst werden und in teils epiphanischen Erfahrungen münden. Unvergleichbar sind hierbei die Passagen, nach dem der kleine Stephen in den Graben geschubst wurde und dabei seine Brille zerbrach. Das gesplitterte Glas verschneidet vor seinen Augen die Dinge zu einem Kaleidoskop, sodass Stephen sich „inmitten von Zerrbildern der äußeren Welt“ bewegen muss. Joyce gelingt, was sonst keinem derart souverän gelingt: Er überträgt Stephens Erlebnis der Verschiebung und Verschneidung der Wahrnehmung direkt auf den Leser, indem er Situationen, Figuren, Gegenstände teils absatzlos ineinander greifen lässt. Solche Beispiele lassen sich für verschiedene Stationen in Stephens Leben finden, wobei die Stile und Techniken sich von Lebensphase zu Lebensphase unterscheiden. Die Sprache wächst gewissermaßen mit dem Helden. Näher kann der personale Erzähler nicht an eine Figur herantreten.

Feinfühlig und zugleich eindringlich skizziert Joyce das Entstehen und Entwickeln von Stephens Persönlichkeit. Alles beginnt mit dem kindlichen Hinterfragen der Dinge, zum Beispiel von einer Banalität wie dem Lachen: „Warum machten Leute solche Dinge mit ihren Gesichtern?“ Und nach und nach muss Stephen auf verschiedensten Ebenen seine eigene Position, seinen Platz in der Welt finden und okkupieren. Das beginnt bereits damit sich überhaupt ein Verständnis für die eigene Existenz innerhalb des Raums zu schaffen. Stephen tut dies, indem er die Räume nach ihrer Größe sortiert, („Stephen Dedalus, Elementarklasse, Clongowes Wood College, Sallins, County Kildare, Irland, Europa, Die Welt, Das Universum“) und über die Strukturierung versucht das Gefühl einer eigenen Präsenz zu artikulieren. Es sind überhaupt immer wieder die Versuche einer Artikulation, welche gerade zu Beginn die Sprache des Romans auszeichnen. „Wenn man über Sachen nachdachte, konnte man sie verstehen“ ist an dieser Stelle nicht nur die Artikulation von einem abstrakten Begriff wie „Logik“, sondern gewissermaßen das Programm und der Gestus der Erzählung. Stück für Stück erschließt sich der jungen Stephen eine Meinung zu übergeordnete Themen, entwickelt auf diese Art so etwas wie Individualität.

Die zwei wichtigsten und emotional nahverwandten Topoi, die sich Stephen zu erschließen versucht, sind „Glaube“ und „Sprache“. Stephens ambivalentes Verhältnis zum Glauben entwickelt sich über die Jahre zu einer deutlichen Abkehr. Zwar ist er einerseits stark geprägt von der Familie und den gesellschaftlichen Befindlichkeiten des damaligen Irlands, andererseits hinterfragt er bereits als Kind die Riten der Religion: „Warum kniet er da wie ein Kind, das sein Abgebet sprach?“

Als ihm wegen seines vorbildlichen Verhaltens die Priesterweihe angeboten wird, ist er gezwungen, unwiderruflich Stellung zu beziehen. Stephen entscheidet sich daraufhin gegen das Priestertum, das für ihn seine Jugend und Heimat verkörpert, und für das Dichtertum sowie die Sprache als Selbstverständnis. Die Konfrontation mit Sprache wird zur letzten und entscheidensten Hürde seiner Identitätsfindung, bis er schließlich der Liebe und Sucht zur Sprache verfällt, „bis jede gewöhnliche Ladenbeschriftung seinen Geist in den Bann zog, wie Worte eines Zauberspruchs“. Die Literatur avanciert zum Zentrum seines Kosmos.

All jene Erfahrungen führen zur endgültigen und allumfassenden Emanzipation Stephens: „Ich will nicht dem dienen, woran ich nicht länger glaube, nenne es sich nun mein Zuhause, mein Vaterland oder meine Kirche: und ich will versuchen, mich in irgendeiner Art Leben oder Kunst so frei auszudrücken, wie ich es vermag.“ Ein Satz, der eine Metamorphose zu ihrem Abschluss bringt, die Verwandlung des angedachten Heldens zum Künstler.

Zu Joyce gibt es nichts, was nicht schon gesagt wurde, seine vier Hauptwerke sind makellos. Seine Genialität lag nicht in irgendeiner affektiven oder musischen Laune, sondern ihn seiner Brillanz im Umgang mit der englischen Sprache. Das Aufzeichnen, Arrangieren und Kombinieren, das Ver- und Überschneiden von Floskeln und Phrasen durch den Bewusstseinsstrom seiner Figuren ist unnachahmlich. Friedhelm Rathjens Übersetzung muss den Vergleich mit der von Klaus Reichert, der ihre 40 Jahre anzumerken sind, nicht scheuen. Rathjen macht Lust auf Joyce und vor allem auf die lang ersehnte Neuübersetzung von „Ulysses“.

Titelbild

James Joyce: Ein Porträt des Künstlers als junger Mann. Roman.
Übersetzt aus dem irischen Englisch von Friedhelm Rathjen.
Manesse Verlag, Zürich 2012.
348 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783717522225

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