Die Sünden der Vergangenheit

Albrecht Classen zeigt literarische Darstellungen der Sexualität im Mittelalter

Von Yvonne LutherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Luther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sexualität im Mittelalter – ein Tabuthema? Nein, meint Albrecht Classen, ganz im Gegenteil. Sexualität gehöre zu den wesentlichen Komponenten der menschlichen Existenz und sei deshalb weder in der Realität noch in der Kunst zu unterdrücken. Anhand von zahlreichen Beispielen aus der europäischen Literatur des Mittelalters vom 10. bis zum 16. Jahrhundert führt er die Thematisierung sexueller Inhalte vor Augen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt auf der Literatur, da diese als Spiegel der sozialen, ethischen und moralischen Verhältnisse und Bedingungen der Epoche angesehen wird. Dennoch – und dies betont auch der Autor – ist zu beachten, dass bei Rückschlüssen von literarischen Werken auf reale Verhältnisse eine gewisse Vorsicht geboten ist.

Classen verfolgt hier das Ziel, falsche Vorstellungen über das Mittelalter zu korrigieren und Erkenntnisse über Grundeinstellungen und Wertkonzepte der Zeit zu gewinnen. Die Komplexität des behandelten Themas korreliert mit der Komplexität der mittelalterlichen Epoche an sich, denn ‚das Mittelalter‘ gab es bekanntermaßen nicht. Der Autor erhebt daher nicht den Anspruch, eine erschöpfende Betrachtung der Darstellungen von Sexualität im Mittelalter zu leisten, sondern wählt einen interdisziplinären, komparatistischen Ansatz mit literaturhistorischem und mentalitätsgeschichtlichem Fokus.

Classen bietet zunächst einen umfangreichen Überblick mit zahlreichen Beispielen (i.d.R. im Original und in neuhochdeutscher Übersetzung), welcher die Breite der Thematik verdeutlicht und den Leser vom frühen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit führt. Die besondere und gewichtige Rolle der Kirche im Zusammenhang mit Sexualität kommt ebenso zur Sprache wie zahlreiche bekannte Werke und Autoren, so etwa das „Nibelungenlied“ (hier vor allem die Episode um Siegfried und Brünhild), der Troubadour Guillaume le Neuf, „Sir Gawain and the Green Knight“, Heinrich Wittenwilers „Ring“ bis hin zur Mystikerin Hildegard von Bingen, um nur einige zu nennen. Bereits anhand dieses Überblicks wird konstatiert, dass Sexualität im öffentlichen Diskurs des Mittelalters eine erhebliche Bedeutung besaß – sowohl als abgelehnte, sündenbehaftete wie auch als glorifizierte Angelegenheit.

Dass Sexualität auch im mittelalterlichen Kloster ein Thema war, wird anhand der Dramen der Kanonissin Hrotsvit von Gandersheim aus dem 10. Jahrhundert gezeigt. Da ihre Werke mit dem Ziel entstanden, religiöse Themen ansprechend zu vermitteln (und damit auch die Popularität der Dramen Terenz’ zurückzudrängen), spielt Sexualität hier eher eine untergeordnete Rolle; im Vordergrund steht eigentlich das anzustrebende Ideal der Keuschheit. Die vielfältigen geschilderten sexuellen Situationen stehen also immer unter dem Blickwinkel der Sündhaftigkeit, jedoch bietet der Glaube einen Ausweg, zum Beispiel aus der Prostitution.

Ganz anders ging der bekannte und literarisch sehr produktive Dichter Neidhart mit dem Thema um. Da seine Figuren im bäuerlichen Milieu agieren, kann er die in der höfischen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts dominierenden Motive der Minne und der damit verbundenen Werbung um eine Dame mit deutlich direkteren Schilderungen verbinden. Die zentrale Figur ist in der Regel der Ritter, der sich im bäuerlichen Umfeld bewegt und dort Frauen verführt, die sich ihm meist willig zeigen. Trotzdem werden sexuelle Inhalte dabei zumeist noch verhüllt dargestellt, etwa durch metaphorisch-symbolisch ausgestaltete Tanzszenen. Wünschenswert wäre an dieser Stelle eine stärkere Berücksichtigung des satirisch-humoristischen Ansatzes der Werke Neidharts, der auch in den vorgestellten Beispielen (zum Beispiel im Motiv lüsterner alter Frauen) zum Tragen kommt.

Der Vergleich der altfranzösischen Fabliaux, der mittelhochdeutschen höfischen Romane, der mittelenglischen „Canterbury Tales“ und weiterer Texte zeigt vielfältige Beziehungen und Parallelen in der Darstellung sexueller Motive, so etwa die Thematisierung von Homosexualität, Ehebruch, sexueller Gewalt, lüsterner Kleriker et cetera. Jedoch wäre eine stärkere und detailliertere Fokussierung auf weniger zu vergleichende Beispiele dem Verständnis förderlich. Ein gesteigertes Interesse an Sexualität und sexueller Erfüllung beobachtet Classen in den mittelhochdeutschen Mären des 13. und 14. Jahrhunderts. Die gegebenen Beispiele, so etwa die Beschreibung eines Orgasmus aus Sicht einer weiblichen Figur in der Erzählung „Das Rädlein“, illustrieren zwar die Feststellung, eine erhellende Erklärung wird nicht angeboten.

In Poggio Bracciolinis „Facetiae“, einer Sammlung von kurzen Erzählungen aus dem 15. Jahrhundert, steht nicht immer die Sexualität im Mittelpunkt. Ist dies aber der Fall, so herrscht eine große Offenheit bei einer, für die mittelalterliche Literatur typischen, männlich dominierten Perspektive vor. Die Ablehnung der „Facetiae“ von Seiten der zeitgenössischen Kirche fußt sicher nicht nur auf der freizügigen Behandlung der Sexualität, sondern auch auf der mithilfe dieses Themas geübten Kritik an der Doppelmoral des Klerus. Dessen Angehörige werden als lüstern, sündhaft und unehrlich dargestellt: Sie predigen Keuschheit, lassen aber selbst keine Gelegenheit aus, sexuelle Erfüllung zu gewinnen und schrecken dabei auch nicht vor Gewalt zurück. Die Erzähler entblößen durch die Beschreibung körperlicher Nacktheit oftmals die Dummheit, Ignoranz und moralische Unzulänglichkeit der dargestellten Figuren. Bracciolinis Publikumserfolg zeigt deutlich das große Interesse an derartiger Literatur.

Die Bedeutung eines Erzählers hängt laut Classen auch mit seiner Auseinandersetzung mit der Sexualität zusammen, dies gelte nicht nur für die großen Erzähler des Spätmittelalters wie Boccaccio und Chaucer, sondern wohl für die Weltliteratur schlechthin. Leider wird dieser beachtenswerten These nicht weiter nachgegangen.

Die behandelten Texte des Spätmittelalters zeigen oftmals die gleichen Zusammenhänge im Rahmen des Themas Sexualität, wie dies bei den früheren Werken der Fall war. Im Vordergrund steht meist satirische (Welt-)Kritik, die Gestaltung der sexuellen Motive dient oft auch dem Angriff auf beziehungsweise dem Spott über die katholische Kirche. Die noch wenig beachteten und untersuchten „Cent Nouvelles Nouvelles“ stehen in einer nicht geklärten Beziehung zu Boccaccios „Decameron“. Auch hier finden sich die üblichen Darstellungen lüsterner Kleriker, impotenter Ehemänner und unersättlicher Frauen, die in erstaunlicher Offenheit behandelt werden. Wiederum dient die Thematisierung von Sexualität und Nacktheit gewöhnlich der Bloßstellung der Torheit der Charaktere. Die männliche Perspektive auf Sexualität wird auch dadurch deutlich, dass die Verbindung von Sex und Gewalt oft gar nicht in diesem Sinne – also als Vergewaltigung – beurteilt wird.

Mit Marguerite de Navarre kommt eine Autorin zu Wort, die sexuelle Themen deutlich offener behandelt als ihre Zeitgenossinnen. Ihr „Heptaméron“ (16. Jahrhundert) steht zwar noch mit dem Mittelalter in Verbindung und zeigt Ähnlichkeit zum „Decameron“, den „Facetiae“ und „Cent Nouvelles Nouvelles“, weist aber zugleich stark frühneuzeitliche Elemente auf. Auch hier dient die Sexualität als Folie für die Gestaltung moralisch geprägter Inhalte (etwa vorbildlich-treue Ehefrauen) sowie zur Bloßstellung der Charaktere.

In jedem Fall ist festzuhalten, dass die Darstellung von Sexualität in den hier vorgestellten Beispielen aus mehreren Jahrhunderten stets auch andere literarische Aufgaben erfüllt als die bloße Zurschaustellung von körperlichen Bedürfnissen – seien es zum Beispiel didaktische, moralische, politische oder satirische Aspekte.

Abschließend konstatiert der Autor, dass im Rahmen des behandelten Zeitraums eine Entwicklung von einer verhüllend-symbolischen Ausdrucksweise hin zur mehr Explizität in der Darstellung sexueller Aspekte zu beobachten ist. Erst im Spätmittelalter verstärke sich das Interesse an Sexualität ungemein, wie anhand der zahlreichen Beispiele aus einer Vielzahl von Werken deutlich geworden ist. Dies hänge eng mit einem zunehmenden narrativen Interesse an den verschiedenen Aspekten des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere den Geschlechterbeziehungen zusammen. Bedauerlicherweise werden solche Aussagen nicht weiter ausgeführt und auch die angesprochenen mentalitätsgeschichtlichen Wandlungen (etwa in der öffentlichen Moral) werden nur skizziert.

Albrecht Classen hat hier eine beeindruckend umfangreiche Sammlung von Beispielen der verschiedenartigsten Darstellungen von Sexualität in der mittelalterlichen Literatur vorgelegt, die eine Fülle von Informationen, so auch Einführendes zu Autoren und Werken, bietet. Deutlich gezeigt hat er damit, dass Themen wie Geschlechtsverkehr, Ehebruch, sexuelle Gewalt, Prostitution und Ähnliches in früheren Jahrhunderten keineswegs mit einem Tabu belegt waren. Trotzdem wären vertiefendere und stärker reflektierende Betrachtungen,zum Beispiel zur Beziehung der Geschlechter oder zur Rolle der Kirche, bei weniger Materialreichtum von Vorteil gewesen. So wird etwa die These aufgestellt, dass man im Mittelalter wesentlich intensiver mit dem nackten Körper und seinen Bedürfnissen umging als heute – eine Aussage, die sicher einer weiteren Überprüfung bedürfte. Es genügt nicht, immer wieder die Bedeutung von Sexualität im menschlichen (Zusammen-)Leben zu betonen und dafür literarische Beispiele heranzuziehen. Gerade anhand der gemachten Beobachtungen zur Rolle und Funktion der sexuellen Inhalte in den untersuchten Texten – die nämlich oftmals vor allem als ‚Transportmittel‘ für andere Anliegen wie Kritik an der Kirche, der allgemeinen Moral und so weiter dienen – sollte eine deutlichere Kommentierung erfolgen. Auch eine abstrahierende, zusammenfassende Betrachtung der immer wieder aufscheinenden Motive – Ehebruch, Vergewaltigung, lüsterne Kleriker, passiv-naive Frauengestalten et cetera – würde dem Leser mehr Orientierung geben. So bleibt die Darstellung leider oft zu sehr der oberflächlichen Beispielpräsentation verhaftet, während der Anspruch der mentalitätsgeschichtlichen Einbindung in den Hintergrund gerät. In jedem Fall bietet das Werk einen breiten Überblick über literarische Darstellungen der Sexualität im Mittelalter und kann zu weiterer Beschäftigung mit dem Thema anregen.

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Albrecht Classen: Sex im Mittelalter. Die andere Seite einer idealisierten Vergangenheit ; Literatur und Sexualität.
Wissenschaftlicher Verlag Dr. Michael P. Bachmann, Badenweiler 2011.
369 Seiten, 35,90 EUR.
ISBN-13: 9783940523112

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