Eine Welt, um 180 Grad gedreht

Aus einer Privatsammlung wird das Frühwerk von Georg Baselitz in der Moritzburg Halle/Saale gezeigt

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Georg Baselitz bezeichnete bei der Ausstellungseröffnung diese Hamburger Privatsammlung als die wichtigste, die vor allem sein frühes Werk umfasst, jene Zeiten also, als der heute international renommierte Künstler selbst noch um Anerkennung ringen musste. Und in der Tat kann die Moritzburg Halle/Saale mit dieser Sammlung eine hervorragende Werkübersicht an Bildern, Zeichnungen und Grafik der 1960er- und 1970er-Jahre – aber auch von Einzelarbeiten und Mappen der späteren Jahrzehnte – präsentieren und so die Brüche und Schnitte im Schaffen des Künstlers deutlich belegen. Denn immer, wenn die Addition – der „Stil“ – drohte, wechselte Baselitz, der seinen Künstlernamen vom sächsischen Geburtsort Deutschbaselitz herleitete, zu einem anderen Inhalt, einer anderen Verfahrensweise, einer anderen Form.

Stets ging es ihm um die Zerstörung eines bestimmten Sehens, um so zu einem Grad Entpersönlichung zu gelangen. Der „Neue Typ“, das sind Darstellungen jugendlicher Helden mit kräftigem Körperbau, übergroßen Händen und kleinen Köpfen, Künstler-Arbeiter, romantische Handwerker des Leidens, der Ekstase und der verrückten Hoffnung in einer kaputten Welt, denen alles Szenische, alles Anekdotische fehlt. Auch die am Boden liegende Fahne hat lediglich Symbolcharakter. Sie mögen heute wie eine Vorwegnahme der rebellierenden Studentenbewegung von 1968 und späterer Generationsbekundungen erscheinen. Doch treten sie als Hirt, Partisan und Maler zugleich auf, es sind Stellvertreter-Figuren für den Künstler, bezeichnend für seine eigene Situation wie für die Auseinandersetzung mit dem traditionellen Bildbegriff und die Experimente in der malerischen Form und den grafischen Techniken. 1966 beginnen zugleich die Frakturbilder: Menschen, Tiere und Landschaften in abgesetzten Fragmenten, Streifen und Scheiben, die Ausschnitte in verschiedener Entfernung und von verschiedenen Blickpunkten zeigen. In „O. T.“ (1966) wird die Bildfläche in mehrere Teile aufgelöst, die verschiedene Ansichten eines Körpers oder Teile von ihm wiedergeben. Sie überlagern, durchdringen sich innerhalb der Einheit des Bildes, sie agieren untereinander völlig unabhängig auf der zugewiesenen Bildfläche.

Der Titel der Ausstellung „Romantiker kaputt“ (sie läuft bis 7. Oktober) ist ein Zitat aus der 1990 entstandenen Bildenzyklopädie „Malelade“, dem ersten der Baselitz’schen Künstlerbücher, einer Sammlung von radierten Naturmotiven und abstrakten Strukturen, die durch Wort- und Satzfetzen gleichsam kommentiert werden. Bild und Welt bilden kein Kontinuum mehr, wie in der Romantik, sondern nur in der vergleichenden Wiederholung von Bild zu Bild lassen sich die Ursprünge einer Motivgruppe – der „Neue Typ“, Wald, Adler oder Akt – ermitteln. Die 150 ausgestellten Arbeiten dokumentieren ein imposantes Lebenswerk, das im andauernden Entstehen und Zerstören, im Zerstören und analytischen Aufbauen besteht. Baselitz praktiziert die Ästhetik der Brüche, er will eine authentische sinnliche Erscheinung von Kunst hervorbringen. Seine Bilder, die immer größere Formate angenommen haben, sind auf dem Atelierboden gemalt – „Ich stehe, laufe, knie auf der Leinwand“. Die Farbspritzer, auslaufende Farbinseln, aus den Gesetzen der Schwerkraft entlassene und jetzt scheinbar auf der Leinwand herumfliegende Farbflächen, aber auch Handballen- und Fußabdrücke bleiben hier genauso stehen wie die Axteinschläge und Sägemale der aus dem Baumstamm roh herausgeschlagenen oder aus splitterähnlichen Schnitten herausgebrochenen Skulpturen. Radikalität und Aggressivität, Sprödigkeit und kompromisslose Direktheit zeichnen sein Schaffen aus. Er malt in der Skulptur und sägt am Bild und hat nicht nur seine Motive um 180 Grad gedreht, sondern stellt die ganze Kunstgeschichte auf den Kopf.

Der großzügig ausgestattete und mit ganzseitigen Abbildungen versehene Katalog enthält nach dem von Katja Schneider (Direktorin) und Cornelia Wieg (Kuratorin) verfassten Vorwort eine erstmals schon 1973 erschienene, höchst geistreiche Gedankenlese des Sammlers Günther Gercken über die in seiner Sammlung befindlichen Werke und einen ebenso anregenden, längeren Aufsatz von Cornelia Wieg über das Frühwerk von Baselitz. Eine Biografie, ein Verzeichnis der Publikationen und der ausgestellten Werke schließen den opulenten Band ab.

Als Baselitz Ende der 1960er-Jahre die Motive auf den Kopf stellte, stand dahinter die Absicht, den Betrachter das Bild als Bild und nicht als abbildende Darstellung sehen zu lassen. Der Gegenstand auf den Kopf gemalt, so Baselitz, „ist tauglich für die Malerei, weil er so als Gegenstand untauglich bzw. wertfrei ist. Außerdem löst diese Methode eine Irritation, einen Schock aus, sie zeigt eine aggressive Haltung, die ich als Demonstration für den Ernst meines Vorgehens gut finde“. Baselitz fand zu einer kontrollierten, stabilen und geschlossenen Form, die sein ganzes Werk bis heute bestimmen sollte. Wesentlicher Faktor der Bildrealität war nicht mehr die Mitteilung, sondern das autonome Bild, die Aussage eines Künstlers, der, um einen erzählerischen Charakter gänzlich auszuschließen, ohne dabei abstrakt zu malen, lediglich an herkömmlichen Themen wie Tierdarstellung, Stillleben, Landschaft und Menschen festhielt, sich jedoch mit Komposition, Linienführung, Farbgebung ganz neu auseinandersetzte.

Schon in seinen „Heldenbildern“ der 1960er-Jahre stehen die Figuren, zwischen Realität und Wunsch zerrissen, riesengroß und doch merkwürdig hilflos in der Landschaft. In den „Fraktur-Bildern“ wurde das Motiv fragmentiert oder verschoben, um schließlich frei im Bildraum herumzuwandern. Die dann kopfüber dargestellten Adler scheinen unbewegt zu verharren oder still zu schweben. Die vibrierenden farbigen Häute in den 1970er-Jahren wirken wie Feste der Sinnlichkeit. Die Fläche wird nicht mehr wie eine Folie für den Dialog von Kompositionselementen oder zueinander strebenden Motiven benutzt, sondern wie ein Echoraum, ein Resonanzboden, der ins Unendliche schwingt. In seine mit Punkten, Flecken oder Sternen besetzten Räume, die sowohl Himmel als auch Erde suggerieren, projizierte Baselitz seine Figuren und Köpfe wie aus einer doppelten Erinnerung an schon Gewusstes und erst jetzt Bewusstwerdendes. Die Motive verdoppeln sich, rücken aus dem Zentrum an die Bildränder, sie scheinen in den Räumen körperlos zu schweben, sie sinken in den Bildgrund ein oder werden übermalt und damit wieder in Frage gestellt. In den Motiven der „Köpfe“ um 1985 beginnt sich dann das Oben und Unten, die strenge Umkehrung der Motive aufzulösen. Von der Darstellung des menschlichen Körpers will Baselitz zur Sichtbarmachung des Bildkörpers, der „denkenden Landschaft“ (Antonin Artaud) gelangen. Das an den Arbeiten nachzuvollziehen, wird zu einem spannenden Seh- und Denkerlebnis.

Literaturhinweis:

Georg Baselitz. Romantiker kaputt. Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafik aus der Sammlung GAG. Hg. von Katja Schneider für die Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt. Konzeption und Redaktion: Cornelia Wieg. Halle (Saale) 2012. 96 S., 80 Abb. 24.90 Euro. ISBN 978-3-86105-060-9