Fantasiegefühle

Ein von Sandra Poppe herausgegebener Sammelband erforscht die Emotionen von Filmzuschauern und Lesern

Von Nina PeterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nina Peter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, wie und ob sich von Fiktionen und medialen Repräsentationen ausgelöste Emotionen von Alltagsemotionen unterscheiden, treibt die Emotionsforschung, Film- und Literaturwissenschaft schon seit einiger Zeit um. Umso erfreulicher ist es, dass nun ein neuer Sammelband mit dem Titel „Emotionen in Literatur und Film“ die Frage nach den Rezipienten-Emotionen in den Mittelpunkt stellt. Gegliedert in vier Teile leistet der Band eine überwiegend sehr lesenswerte Übersicht zur rezipientenorientierten Emotionsforschung. Während die Beiträge des ersten Teils verschiedene Ansätze zur Erklärung der Entstehung ‚realer’ und ‚fiktionaler‘ Emotionen formulieren, ist der zweite Teil film- und literaturwissenschaftlichen Perspektiven auf mediale Emotionsvermittlungen gewidmet. Der dritte Teil versammelt Beispielanalysen, die sich mit Trauer und Freude in Filmen und Texten befassen. Abgeschlossen wird der Band, der aus der Arbeitsgemeinschaft „Emotionsvermittlung und Emotionalisierung in Literatur und Film“ des Zentrums für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld hervorging, von einem Gespräch mit der Autorin Katharina Hacker und dem Filmregisseur Oskar Roehler.

Durch die medienkomparatistische Ausrichtung des Bandes und die von seinen Beiträgen geleistete Herausarbeitung von Differenzen und Gemeinsamkeiten der Emotionalisierungsmöglichkeiten von Texten und Filmen gelingt es, einen produktiven Dialog der beiden Fächer anzustoßen. Dass einzelne Beiträge bisweilen geradezu konträre Hypothesen formulieren – am deutlichsten divergieren die Einschätzungen hinsichtlich der Frage, ob alltags- und medienbezogene Emotionen sich in ihrer Beschaffenheit grundsätzlich voneinander unterscheiden – tut der Qualität des Bandes keinen Abbruch, sondern sensibilisiert vielmehr für kontrovers diskutierte, noch nicht abschließend geklärte Fragestellungen des Themas, die hier auf hohem Niveau beleuchtet werden.

Ein besonderes Augenmerk richtet der Band auf Paradoxien der Rezipienten-Emotionen: Die Beiträge von Rainer Reisenzein, Katja Mellmann, Frank Zipfel sowie Roland Mangold und Anne Bartsch gehen den Fragen nach, warum Fiktionen Emotionen auslösen beziehungsweise warum negative Emotionen im Kunstkontext genossen werden können.

Rainer Reisenzein beschreibt Real- und Phantasieemotionen im Rahmen der Computational Belief-Desire Theory of Emotion als Ergebnisse parallel, aber kognitiv getrennt voneinander ablaufender Vergleichsmechanismen. Damit plädiert er dafür, Real- und Fantasieemotionen nicht nur hinsichtlich ihrer Funktion, sondern auch hinsichtlich ihrer Genese klar voneinander zu unterscheiden.

Gegen die Annahme eines grundlegenden Unterschieds der Entstehungsmechanismen von Real- und Fiktionsemotionen argumentiert hingegen Katja Mellmann. Auf der Grundlage evolutionspsychologischer Erkenntnisse beschreibt sie Emotionen als angeborene Reaktionsprogramme, die auf spezifische Auslöseschemata und Stimuli antworten – und zwar zunächst unabhängig davon, ob diese als real oder fiktional einzuschätzen sind. Auch Literatur und Film können damit als ‚Attrappen‘ Schlüsselreize für die Auslösung von Emotionen transportieren. Das ‚Paradox of Fiction‘ – die 1975 von Colin Radford angestoßene Frage, warum wir auch auf fiktionale Darstellungen emotional reagieren, obwohl uns bewusst ist, dass wir es nicht mit realen Personen und Geschehnissen zu tun haben – wird hier mit dem Verweis auf den biologischen Ursprung von Emotionen gelöst.

Eine kritische Erweiterung des Fiktions-Paradoxes nimmt der Beitrag von Frank Zipfel vor. Er weist darauf hin, dass in der Diskussion des Fiktions-Paradoxes darstellungs- und fiktionsspezifische Argumente häufig nicht unterschieden werden. Die Frage, warum wir auf nicht unmittelbar erlebte, faktische Darstellungen emotional reagieren, sei nicht weniger bemerkenswert als die Auslösung von Emotionen durch Fiktionen. Beide Paradoxien – das ‚Mimesis-Paradox‘ einerseits und das Fiktions-Paradox andererseits – sollten, so schlägt Zipfel vor, klar auseinandergehalten werden, um eine differenzierte Analyse der Emotionsinduktion durch Texte und Filme zu ermöglichen.

Ebenfalls mit einem Paradox – nämlich dem ‚Sad-Film-Paradoxon‘ – beschäftigen sich Roland Mangold und Anne Bartsch. Mithilfe des Konzepts der Meta-Emotionen geben sie eine Antwort auf die Frage, warum sich Filmrezipienten häufig freiwillig negativen Emotionen aussetzen. Sie machen deutlich, dass vom Film ausgelöste Emotionen wiederum selbst zum Gegenstand affektiver Bewertungen werden können, wobei die so entstehende ‚Meta-Emotion‘ nicht unbedingt mit der Valenz der ursprünglich empfundenen Emotion übereinstimmen muss: Negative Emotionen können zu positiven Meta-Emotionen führen. Gründe für eine solche positive Bewertung negativer Emotionen und das daraus folgende Genießen ursprünglich negativer Gefühlszustände gibt es zahlreiche, wie eine von den beiden Autoren durchgeführte Erhebung zeigt. Die Konfrontation mit problematischen Emotionen beispielsweise kann als geistige Anregung erfahren werden, vom Film ausgelöste Trauer kann positiv erlebte Rührung zur Folge haben. Als Rahmenmodell kann das Konzept der Meta-Emotionen damit unterschiedliche bestehende Erklärungsansätze des ‚Sad-Film-Paradoxon‘ integrieren.

Einen der möglichen Auslöser von Meta-Emotionen nimmt Julian Hanichs Beitrag über die Filmrezeption im Kino in den Blick. Hanich weist darauf hin, dass Rezipienten-Emotionen keineswegs ausschließlich von Filminhalt und -ästhetik ausgelöst werden, und macht deutlich, dass die kollektive Rezeptionssituation des Kinos einen weitreichenden Einfluss auf die Emotionen der Kinobesucher hat: Die Anwesenheit Anderer während der Filmrezeption beeinflusst die eigenen Empfindungen, sei es durch isolierende Scham, die einen strafenden Blick durch die ko-präsenten Mitzuschauer imaginiert, oder durch das kollektive Teilen von Emotionen, das wiederum zur Quelle positiver Meta-Emotionen werden kann.

Mit darstellungsspezifischen Fragestellungen befassen sich die Beiträge von Tilmann Habermas, Thomas Anz, Burkhard Meyer-Sickendiek und Jens Eder.

Tilmann Habermas untersucht den Einfluss der Erzählperspektive auf die emotionale Wirkung trauriger Alltagserzählungen und kann anhand einer empirischen Studie belegen, dass die Erzählweise die hervorgerufenen Emotionen beeinflusst. Unpersönliches Erzählen, das subjektive Perspektiven ausspart, führe beispielsweise zu einer Verschiebung der Fokussierung von der erzählten Situation auf die Person des Erzählers: Statt empathisch zu reagieren, tendierten die Rezipienten in diesem Fall zu einer emotionalen Bewertung der Erzählerfigur.

Dass verschiedene Darstellungstechniken von Autoren bewusst als Emotionalisierungsstrategien eingesetzt werden und das Erkennen dieser Autorintentionen durch den Leser einen elementaren Bestandteil emotionaler Kommunikation bildet, betont Thomas Anz – und bemängelt, dass literarische Texte von der Forschung bislang noch nicht systematisch als künstlich arrangierte Reizkonfigurationen wahrgenommen würden. Hier fehle der Emotionsforschung bis heute ein geeignetes Instrumentarium.

Burkhard Meyer-Sickendieks Beitrag unternimmt den Versuch einer Aktualisierung des Begriffs der Stimmungslyrik. Ein Großteil des Beitrags widmet sich vorbereitend der historischen Begriffsrekonstruktion, so dass die Erläuterungen der eigenen theoretischen Überlegungen etwas kurz geraten. Der intendierte Entwurf einer neuphänomenologischen Lyriktheorie verbleibt in diesem Rahmen daher im Stadium des Sammelns von ‚Bausteinen‘.

Mit Depressionsdarstellungen im Film beschäftigt sich Jens Eder. Seine Analyse des Films „Deine besten Jahre“ von Dominik Graf veranschaulicht die These, dass Filme komplexe und existentielle Emotionen, wie sie beispielsweise im Verlaufe einer Depression auftreten, sowohl darstellen, als auch bei ihren Zuschauern auslösen können. Sein Augenmerk richtet Eder dabei besonders auf filmische Verfahren der Emotionalisierung, die über Handlung und narrative Struktur hinausgehen und dem Zuschauer ein sinnliches Miterleben der Depression ermöglichen. Dass sich die Depressionsdarstellungen in Mainstream-Filmen stark von den Darstellungen in Arthouse und Autorenfilmen unterscheidet, zeigt, dass die jeweiligen Zielgruppen sich offenbar ganz unterschiedliche Gratifikationen von der Filmrezeption erhoffen.

Wie Jens Eder fragen auch Michael Braun und Werner Kamp nach den filmischen Möglichkeiten, die Emotionen von fiktionalen Figuren zugänglich zu machen. Ihre Analyse von Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“ kommt zu dem Ergebnis, dass dem Zuschauer die Figurenemotionen weniger durch den Blick auf den Protagonisten, als durch den Blick auf die ‚Welt‘ vermittelt werden. Nicht eine objektive Wirklichkeit sei in den einzelnen Szenen des Films zu sehen, sondern ‚Bewusstseinsbilder‘. Unter Rückgriff auf Bruce Kawins Begriff des ‚Mindscreen‘, der die Visualisierung von Gedanken einer Figur im Spielfilm beschreibt, entschlüsseln die beiden Autoren die Inszenierungsstrategie von Kubricks letztem Film.

Während die Beiträge von Eder, Braun und Kamp filmspezifische Emotionalisierungsverfahren in den Mittelpunkt rücken, die weniger auf der Ebene von Narration und Handlung als im Bereich der audiovisuellen Gestaltung anzusiedeln sind, untersucht Jean-Pierre Palmier in seiner Analyse von filmischen Goethe-Adaptionen das medienunabhängige Emotionalisierungspotential von Handlungen und Geschichten. Gerade die Distanzierung von der identifikatorischen Perspektive – beispielsweise durch die Vorahnung eines tragischen Endes oder die Einsicht in die Diskrepanz zwischen den Emotionen einer Figur und ihrem gesellschaftlichen Umfeld – könne zu einer emotionalen Beteiligung des Lesers und Zuschauers führen – und das unabhängig von den Besonderheiten des jeweiligen Mediums.

Pascal Nicklas’ Beitrag schließlich beschäftigt sich am Beispiel von „Sin City“ mit dem Zusammenwirken der Fiktions-Emotionen, die sich auf die Handlung beziehen, und der Artefakt-Emotionen, die auf ästhetische Phänomene reagieren (Tan). Gerade aus dem Zusammenspiel widersprüchlicher Fiktions- und Artefakt-Emotionen ergebe sich in „Sin City“ ein kognitiv-emotionales Gesamterlebnis, das sich als ‚ästhetische Erkenntnis‘ umschreiben lasse.

Insgesamt versammelt der Band qualitativ hochwertige Aufsätze, die einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis der Rezipienten-Emotionen und des Emotionalisierungspotentials von Literatur und Film leisten. Die thematischen Schwerpunktsetzungen der theoretischen Kapitel sind durchdacht und eröffnen einen fundierten Einblick in aktuelle Forschungsdiskussionen. Die unterschiedlichen Ansätze zur Erklärung der Paradoxien der Rezipienten-Emotionen bieten dem Leser Perspektiven verschiedener Disziplinen und münden in einen produktiven Dissens, der auf eine zukünftige Fortsetzung der Diskussion hoffen lässt. Auch die Beiträge zu den Emotionalisierungsverfahren von Texten und Filmen ergänzen sich konstruktiv, indem sie ganz unterschiedliche Phänomene in den Blick nehmen (die Rezeptionssituation, Erzählerperspektiven, textuell entzifferbare Autorintentionen, audiovisuelle Zuschaueraffizierung). Auch wenn in den Beispielanalysen vor allem filmische Darstellungsformen im Mittelpunkt stehen und literarische Texte etwas zu kurz kommen, führen sie überzeugend das analytische Potential der Frage nach Emotionalisierungsverfahren in Literatur und Film vor Augen. Die abschließende Integration der Produzentenperspektive durch das Gespräch mit Katharina Hacker und Oskar Roehler erscheint auf den ersten Blick ebenfalls als gute Idee – allerdings hätte dem wenig leserfreundlichen wörtlichen Abdruck der Diskussion eine nachträgliche Überarbeitung gut getan. Alles in allem ist mit dem Sammelband eine Publikation gelungen, der viele Leser zu wünschen sind, und der durch die durchdachte Zusammenstellung mehr ist als nur die Summe seiner Teile.

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Sandra Poppe (Hg.): Emotionen in Literatur und Film.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2012.
332 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783826046568

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