Familienbande

Ein Plädoyer für die Schimpansen

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie sehen so menschlich aus. Wer sie anschaut, erkennt in ihren Gesichtern Züge eines Verwandten, der auf einer früheren biologischen Entwicklungsstufe stehen geblieben ist: "Bruder Affe", wie der "Spiegel" jüngst titelte.

Kein Tier fasziniert so, wie Affen es tun, insbesondere Schimpansen, die mehr als 98 Prozent ihrer Erbanlagen mit uns teilen. Wer sich mit ihnen befasst, von Angesicht zu Angesicht, meint in ihren Mienen zu lesen, was eigentlich dem Menschen vorbehalten ist: Traurigkeit, Mutterliebe, Schalk.

107 Farbfotos hat die weltberühmte Schimpansenforscherin Jane Goodall zusammen mit Michael Nichols, einem Tierfotografen des Magazins National Geographic, für den Bildband "Verwandte" zusammengestellt. Stumm bleibt keine der Fotografien, jede erzählt eine Geschichte. Die von Flo, Fifi und Freud, die Jane Goodall in den 70er Jahren in Langzeitstudien am Ufer des Tanganikasees in Tansania beobachtet hat. Oder die Geschichten der namenlosen Laborschimpansen, die in Forschungsinstituten ein trauriges Dasein fristen.

Ihre Ähnlichkeit mit dem Menschen ist den Tieren zum Verhängnis geworden. Die erste "bemannte" Raumkapsel war mit einem Schimpansen besetzt. In der Aidsforschung glaubt man noch heute, auf sie nicht verzichten zu können, obwohl an ihnen nur die Symptomatik, nicht aber das Vollbild der Krankheit ablesbar ist.

In eineinhalb Prozent Erbmasse, die den intelligenten Affen vom homo sapiens unterscheiden, liegt das Geheimnis des Menschseins verborgen. Versuche mit den wilden Vorfahren haben längst bewiesen, wie sehr die emotionale und kognitive Fähigkeit die Schimpansen, Orang-Utans und Gorillas vom Rest des Tierreichs trennt. Sie stehen uns viel näher als Hund und Katze - näher, als so manchem lieb ist. Schimpansen besitzen eine Vorstellung von ihrem Ich, sie erkennen sich im Spiegel, haben ein erwiesen hohes Sprachvermögen, ein ausgeprägtes Sozialverhalten und die Fähigkeit, Werkzeuge zu gebrauchen. Nicht verwunderlich, dass sich die Tiere im Käfig langweilen, als Varietékünstler verblöden und in Versuchslabors verkümmern.

Jane Goodall kämpft seit mehr als zwanzig Jahren für die Rechte der uns am nächsten stehenden Menschenaffen. Wer die Grausamkeit kenne, der die Tiere ausgesetzt sind, wer ihnen ins Gesicht gesehen und ihre Persönlichkeit erkannt habe, der müsse beschämt sein über die fehlende moralische Verantwortung für die Kreatur und könne das "Leiden unserer verletzlichen Verwandten nachempfinden". Ihr Buch ist Anklage und Appell zugleich. Sie will auf die Zerstörung des natürlichen Lebensraums der großen Menschenaffen hinweisen und ein Bewusstsein für ihre Bedürfnisse schaffen. Ihre Sprache sind die Bilder, deren Faszination und Brutalität sich niemand entziehen kann.

Titelbild

Michael Nichols / Jane Goodall: Verwandte. Schimpansen und Menschen.
Zweitausendeins, Frankfurt 2000.
127 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3861503298

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