Warten auf den Kommentar

Zu Band 14, 1 der Oßmannstedter Wieland-Ausgabe

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es liegt bereits mehr als 130 Jahre zurück, dass Friedrich Nietzsche sich über Christoph Martin Wieland äußerte und dabei sein hohes Lob, dieser habe besser deutsch geschrieben als irgendjemand, mit dem nahezu vernichtenden Einwand verband: „aber seine Gedanken geben uns nichts mehr zu denken“. Nietzsches Kritik wirft ein bezeichnendes Licht auf die Wieland-Rezeption nicht nur des 19. Jahrhunderts; da nie nachhaltig revidiert, behält sie ihre Gültigkeit bis heute. Aber erstaunlicherweise tut sie der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Wieland keinen Abbruch. Davon zeugen Mühe und Aufwand, mit denen historisch-kritische Wieland-Ausgaben herausgebracht werden.

Nachdem der Briefwechsel in einer sorgfältigen und nicht genug zu würdigenden 20-bändigen Edition vorliegt (der letzte Band erschien 2007), sollen nun in der „Oßmannstedter Ausgabe“ (seit 2008) alle Werke verfügbar gemacht werden. Zu betonen ist „alle“, wobei der Werkbegriff der Relativierung bedarf. Kanonisierte Meisterwerke, also in erster Linie die „Geschichte des Agathon“, „Die Abderiten“ und der „Oberon“, werden begleitet von höchst verschiedenartigen Texten: von poetischen Nebenprodukten, die kaum mehr als literarhistorischen Reiz haben wie die Verserzählung „Pervonte“, Adaption eines Märchens aus Giambattista Basiles „Pentameron“, von journalistischen Arbeiten, die heute ohne großen Informationswert sind wie die „Auszüge aus Hrn. Johann Reinhold Forsters […] Reise um die Welt“, bestehend aus wörtlichen Zitaten, Inhaltsangaben und eingestreuten zeitgebundenen Reflexionen, und von einer Fülle von Verlautbarungen, über deren geringe Relevanz kein Zweifel herrschen kann wie die Ankündigung an die Abonnenten des „Teutschen Merkur“, das Erscheinen des „Oberon“ betreffend, oder gar Druckfehlerverzeichnisse. Maßgeblich für die Anordnung ist die Chronologie der Veröffentlichungen. Das erweckt zwar den Eindruck sachlicher Inkohärenz, ist aber von erfreulicher Eindeutigkeit angesichts der oft schwer zu entscheidenden Frage, wie ein Text zu klassifizieren sei. Von der strengen chronologischen Reihenfolge sind die Werke ausgenommen, die in Fortsetzungen publiziert wurden; sie werden geschlossen abgedruckt: Also haben die „Abderiten“ (erschienen 1774-1778) ihren Platz im Band 11 der „Oßmannstedter Ausgabe“, obwohl sie der Chronologie nach auch noch in die Folgebände gehörten.

Wenn der hier anzuzeigende Band überhaupt so etwas wie ein geistiges Zentrum hat, ist es darin zu finden, dass die in ihm versammelten Texte in den Jahrgängen 1778/79 des „Teutschen Merkur“ erschienen sind und er Wieland als dessen Herausgeber und Hauptbeiträger dokumentiert, soweit eine solche Dokumentation überhaupt möglich ist, wenn die Zeitschrift selbst außen vor bleibt. So wenig „Der Teutsche Merkur“ ohne Wieland zu denken ist, ein repräsentatives Publikationsorgan wurde er erst durch die große Zahl seiner namhaften Mitarbeiter, wie Johann Wolfgang Goethe in seiner Rede „Zu brüderlichem Andenken Wielands“ hervorhebt: „Auch versammelten sich wertvolle Männer bald um ihn her, und dieser Verein vorzüglicher Literatoren wirkte so viel, dass man durch mehrere Jahre hin sich des Merkurs als Leitfadens in unserer Literargeschichte bedienen kann.“ In der Tat, mit Hinblick auf den gesamten „Merkur“ nimmt sich die Auflistung der Mitarbeiter aus wie ein Namensregister zur deutschen Literaturgeschichte des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts. Beschränkt man sich auf die Jahrgänge 1778/79, fällt die Liste zwar bescheidener aus, bleibt jedoch ansehnlich genug.

Ein in diesen Jahren besonders fleißiger Mitarbeiter war der mit Wieland befreundete Johann Heinrich Merck, heute noch als Jugendfreund Goethes und mögliches Vorbild für Mephisto im Gedächtnis. Dem Literarhistoriker zumindest dem Namen nach vertraut sind Johann Georg Jacobi und Friedrich Leopold Graf von Stolberg. Bemerkenswert zahlreich sind die Beiträge des Weimarer Italianisten Christian Joseph Jagemann, der wie Wieland zum engeren Kreis um Herzogin Anna Amalia gehörte. Das prominenteste Mitglied dieses Kreises, Goethe, steuerte das Monodrama „Proserpina“ bei.

Leider führt die Beschränkung auf Wieland-Texte dazu, dass die Ausgabe über die Beiträge anderer Autoren nur marginal oder überhaupt nicht informiert. Wie unbefriedigend das ist, mag das Beispiel von Johann Heinrich Voß veranschaulichen. Auf ihn stößt man dreimal: 1) Anmerkung zu einer Probe aus der „Odyssee“-Übersetzung, 2) Aufruf von Voß, auf seine „Odyssee“-Übersetzung zu subskribieren mit Wielands Zusatz, dass in Weimar er selbst die Pränumeration entgegennehmen wolle, 3) Modifikation der Subskriptionsbedingungen mit einem werbenden Zusatz Wielands, in dem es unter anderem heißt, dass der Wert der Übersetzung „bereits aus den mitgetheilten Proben bekannt ist“. Das ist ein Kreisen um eine leere Mitte, denn über die im Februar-Stück 1779 veröffentlichte Übersetzung des „Vierzehnten Gesangs“ selbst erfährt man nichts.

Nun ist Voß’ Übersetzung leicht aufzutreiben; aber wie steht es mit Texten, die selbst einem Spezialisten ungeläufig sind? Die Lösung des Problems wäre ein vollständiger Nachdruck des „Merkur“. Er würde jedoch jeglichen Rahmen sprengen und sich auch nicht lohnen angesichts des erfreulichen Umstands, dass die Zeitschrift inzwischen im Internet zugänglich ist. Bleibt die Hoffnung, dass der in Aussicht gestellte Kommentar einen Ausweg findet aus dem Dilemma zwischen der literaturhistorisch wünschenswerten Breite und der in einer autorbezogenen Ausgabe unvermeidlichen Verengung.

Das Fehlen der nicht von Wieland stammenden Texte macht sich sehr konkret und störend bei den Druckfehlerverzeichnissen bemerkbar. So korrigiert Wieland einen Druckfehler, der „einem Autor den Muth zum Schreiben wenigstens auf 4 Wochen niederschlagen“ könne, zitiert ihn aber nicht, sondern bietet lediglich die berichtigte Version. Um den so emphatisch beklagten Fehler zur Kenntnis nehmen zu können, muss man im „Merkur“ nachschlagen und stellt fest, dass es sich um keinen Text Wielands handelt, sondern der Fehler einen Satz in Mercks Erzählung „Geschichte des Herrn Oheims“ entstellt. Doch selbst wenn es um Druckfehler in Wielands eigenen Texten geht, muss zur Klärung der „Merkur“ herangezogen werden, weil in der Ausgabe die Fehler stillschweigend verbessert worden sind und somit die Korrekturen keinen Bezug mehr haben. Wahrscheinlich sollen die unentbehrlichen Erläuterungen im Kommentarband erfolgen. Bei allem Respekt vor dem Bemühen, Belege für Wielands Herausgebersorgfalt zu liefern, drängt sich die Frage auf, ob korrigierte Errata mitteilenswert sind oder ob hier gewissenhafte Philologie in sinnleere Pedanterie umschlägt.

„Der Teutsche Merkur“ erschien in einer Zeit, als Weltliteratur eine Selbstverständlichkeit war, wenn auch avant la lettre. Als der alte Goethe dabei war, den Begriff zu prägen und mit Inhalt zu füllen, sagte er zu Eckermann: „Ich sehe mich daher gern bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“ Einen solchen Rat hätte Wieland nicht nötig gehabt, vielleicht hätte er über ihn gelächelt. Es fällt schwer, einen deutschen Autor zu nennen, der sich in anderen Nationen mehr umgesehen und sich mehr bemüht hätte, ihre Dichtungen nach Deutschland zu holen, als er. Das bezeugen die eigenen Übersetzungen ebenso wie die aus der Feder anderer „Merkur“-Beiträger.

Dabei richtete sich Wielands Interesse nicht ausschließlich auf Dichtungen, vielmehr schenkte er auch dem Literaturbetrieb seine Aufmerksamkeit wie beispielsweise in seiner Übersetzung der „Anekdoten des Herrn von Voltaire lezte [sic] Lebensauftritte betreffend“. Sie ist recht frei und distanziert sich von der französischen Vorlage: Der unbekannte Verfasser gehöre zu den „Persiffleurs“ [sic] und lasse es an Respekt gegenüber dem „Charakter des außerordentlichsten Mannes unsers Jahrhunderts“ wie auch gegenüber den Gegnern Voltaires, den Vertretern der Geistlichkeit, fehlen. Die Distanzierung war vielleicht der Vorsicht geschuldet, die Wieland als „Merkur“-Herausgeber für ratsam gehalten haben dürfte; denn das Amüsement des Übersetzers darüber, dass sich in Paris so manches abgespielt hat, was in Abdera am Platz gewesen wäre, bleibt spürbar.

Bei den „Anekdoten“ ist auch eine Übersetzungsinkonsequenz instruktiv: Die zahlreichen Verseinschübe bleiben unübersetzt. Offenbar glaubte Wieland, sich die Mühe sparen zu können, weil er bei der Leserschaft des „Merkur“ – das geht auch aus anderen Beiträgen hervor – hinreichende Französischkenntnis voraussetzte, was letztlich impliziert, dass die Übersetzung der „Anekdoten“ an und für sich überflüssig war. Anscheinend wollte er sich den aktuellen und unterhaltsamen Stoff nicht entgehen lassen, musste ihn aber im „Merkur“, wo ein rein französischsprachiger Beitrag deplaziert gewesen wäre, auf Deutsch präsentieren.

Das übermittelte Voltaire-Bild weicht wenig von dem in Europa verbreiteten Klischee ab: „bewundert viel und viel gescholten“. Dem entspricht die mythologische Gestalt der Fama, sowohl Ruhm verkörpernd als auch das Gerücht. In einer mitgeteilten „Grabschrift“ wird sie angeredet: „Toi, dont il fatigua les cent voix et les âiles, / Dis que V o l t a i r e est mort, pleure et repose toi.“ Hier hat sich in die Ausgabe ein hässlicher Fehler eingeschlichen, der das Verständnis erschwert: „âiles“ (altertümliche Schreibweise für „ailes“ [Flügel]) wird getrennt in „â iles“. Eine Lappalie, gewiss, sie sei jedoch angemerkt, weil sie illustriert, wie hilfreich es ist, wenn bei einer historisch-kritischen Ausgabe die Bearbeitung des Textes mit dessen Kommentierung Hand in Hand geht; bei einer Erläuterung der Verse wäre der Fehler aufgefallen.

Von der „Oßmannstedter Ausgabe“ sind bisher acht Textbände erschienen, noch kein Kommentarband. Aber erst ein fundierter Kommentar, der über Philologisches hinausgehen und Antworten auf zum Teil entlegene Sachfragen geben müsste, würde ihre Nützlichkeit gewährleisten. Wielands Werke setzen den Bildungshorizont des 18. Jahrhunderts voraus und ihn zumindest ansatzweise zu rekonstruieren, ist für ihr Verständnis unabdingbar. Ob eine neue und gründliche Lektüre zu einer umfassenden Revaluation des einstigen Lieblingsautors der Deutschen führen würde, bleibt zwar zweifelhaft; aber manches verdiente sowohl aus historischen als auch aus ästhetischen Gründen dem Vergessen entrissen zu werden.

Titelbild

Christoph Martin Wieland: Wielands Werke. Band 14.1.
Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma und Klaus Manger.Bearbeitet von Peter-Henning Haischer, Hans-Peter Nowitzki, Tina Hartmann.
De Gruyter, Berlin 2011.
652 Seiten, 249,00 EUR.
ISBN-13: 9783110284638

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