Am Ende waren gut verwaltete, sich selbst bewachende Gefangenenlager

Hellwinkel bietet mit „Hitlers Tor zum Atlantik“ eine materialreiche Studie über die deutschen Seestützpunkte in Frankreich, aber leider ohne zentrale These

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was deutschen Marinestrategen in der Weimarer Zeit noch als verwegene Utopie erschien, wurde nach dem Westfeldzug 1940 überraschend Wirklichkeit. Die Kriegsmarine konnte die wichtigen französischen Atlantikhäfen beinahe kampflos in Besitz nehmen, nachdem die Dritte Republik in nur sechs Wochen militärisch zusammen gebrochen war. Nun erschien der Seekrieg gegen Großbritannien auf einmal nicht mehr aussichtslos. Ohne den Umweg über Schottland war es den schnellen deutschen Schlachtschiffen „Scharnhorst“ und „Gneisenau“ jetzt möglich, direkt in den Atlantik vorzustoßen und die für das Inselreich lebenswichtigen Konvois anzugreifen.

Doch Hitlers Euphorie kam zu früh. War es doch der französischen Marine nicht nur gelungen, noch unmittelbar vor Eintreffen der deutschen Panzerspitzen die Masse ihrer großen Schiffseinheiten in britische oder nordafrikanische Häfen zu retten, mit Hilfe britischer Sprengkommandos hatte sie auch die Werft-und Kaianlagen der bedeutenden Atlantikhäfen wie Brest, Lorient und St. Nazaire größtenteils zerstört. Die Reparatur der militärischen Infrastruktur durch die neue Besatzungsmacht nahm Monate in Anspruch und erreichte nirgendwo wirklich einen zufriedenstellenden Stand. Die agile britische Luftwaffe tat ein Übriges, das kontinuierliche Auslaufen der deutschen Schlachtschiffe in den Atlantik zu verhindern. Schon im Herbst 1941 war der Kreuzerkrieg gegen England endgültig gescheitert und die deutsche Seekriegsleitung beorderte ihre Einheiten in einer spektakulären Aktion durch den Kanal zurück in die Nordsee.

Nun brach die Stunde von Dönitz’ U-Booten an, und die Organisation Todt baute die riesigen Bunkeranlagen von Brest, Lorient, St. Nazaire und La Rochelle, die immerhin 70 Exemplaren der „Grauen Wölfe“ wirksamen Schutz vor den jetzt unablässigen Angriffen der RAF boten. Ihre spätere Niederlage in der Schlacht im Atlantik hatte jedenfalls andere Ursachen als das Fehlen geeigneter Liegekapazitäten.

Diese wichtigsten Eckpunkte des Seekrieges gegen England markieren den militärstrategischen Kontext für Lars Hellwinkels detaillierte und gut gegliederte Studie der deutschen Marinestützpunkte in Frankreich, die aus einer thematischen Erweiterung seiner Dissertation über den Kriegshafen Brest unter deutscher Besatzung hervorgegangen ist. In einer lesenswerten Mischung aus Besatzungs- und Regionalgeschichte beschreibt der Verfasser, der als freier Historiker in Stade lebt, das soldatische Dasein in den deutschen Standorten am Atlantik, das Zusammenwirken mit den französischen Behörden und vor allem aber das Verhältnis der Marine zu den zahlreichen französischen Zivilkräften in den Basen, ohne die ein geordneter Werftbetrieb und vor allem der Ausbau der gigantischen U-Boot-Bunkeranlagen unmöglich gewesen wäre.

Zwischen Kollaboration und Résistance gab es natürlich auch eine Art Alltag, den der Autor anhand von gut gewählten Beispielen schildert und auch in dem reichen Bildteil des Buches anschaulich macht. Seine Studie füllt fraglos eine Lücke für die Militärgeschichtsschreibung beider Nationen. Während sich die französische Seite mit der deutschen Besatzungszeit bisher vorzugsweise aus der Perspektive der Résistance befasste und die Frage der Beteiligung der eigenen Landsleute an den heute noch die Hafenanlagen von La Rochelle, Bordeaux und St. Nazaire prägenden U-Bootbunkern lieber gar nicht erst aufgriff hat, überwogen aus deutscher Sicht die Bilder der zu Tode geweihten U-Bootfahrer, von denen nur jeder Dritte den Krieg lebend überstand. Das Ende der deutschen Herrlichkeit am Atlantik kam mit der alliierten Invasion in der Normandie. Da die gegnerische Führung die rasche Inbesitznahme der französischen Häfen in der benachbarten Bretagne als äußerst kriegswichtig ansah, kam es im Fall der Stadt Brest zu einer mehrwöchigen Belagerung, bei der allerdings die französische Zivilbevölkerung wie schon bei den vorangegangen alliierten Bombardements mehr litt als die deutsche Wehrmacht.

Jedenfalls wunderten sich die siegreichen Amerikaner, als sie nach der deutschen Kapitulation am 18. September 1944 noch mehr als 30.000 Gefangene in Verwahrung zu nehmen hatte. Die übrigen noch von den Deutschen besetzten Häfen der Bretagne verloren aber nach dem rasanten Vormarsch der Alliierten zur Seine und der Einnahme von Antwerpen jede militärische Bedeutung und waren, so Hellwinkel, trotz allem nationalsozialistischem Propagandagetöse „nicht mehr als gut bewachte, sich selbst verwaltende Gefangenenlager in Erwartung der Kapitulation.“

Hellwinkel beschreibt nicht nur diesen traurigen Epilog der Geschichte der deutschen Marinestützpunkte in Frankreich in aller Ausführlichkeit, er bietet dem Leser mit seinem letzten Kapitel auch einen Einblick in die aktuelle Situation der Bunkeranlage, die inzwischen kulturellen oder musealen Zwecken dienen, ohne dass aber bisher tatsächlich eine überzeugende Lösung für die sperrigen deutschen Hinterlassenschaften gefunden werden konnte.

Seine Studie füllt ganz sicher eine historiografische Lücke. Allerdings hätte man als Leser auch in einer erweiterten Dissertation eine stärkere Ausrichtung an einer zentralen These erwartet. So steht vieles unvermittelt nebeneinander. Als Leser arbeitet man sich durch die angebotene Fülle von Material und kämpft nicht nur einmal mit der Versuchung, einzelne Seiten zu überspringen. Gerade aber wenn sich der Band, wie seine starke Bebilderung vermuten lässt, nicht nur an ein Fachpublikum richtet, wären einige tabellarische Übersichten zu Gliederung, Ausstattung und personeller Stärke der in Frankreich stationierten Marinestreitkräfte hilfreich gewesen. Auch eine Zeittafel am Schluss hätte den recht knapp ausgefallenen wissenschaftlichen Apparat sinnvoll ergänzt.

Titelbild

Lars Hellwinkel: Hitlers Tor zum Atlantik. Die deutschen Kriegsmarinestützpunkte in Frankreich 1940–1945.
Ch. Links Verlag, Berlin 2012.
220 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783861536727

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