Heterogenität einer Epoche

Mediävisten ehren den renommierten Wissenschaftler Hans-Werner Goetz in dem Band „Geschichtsvorstellungen. Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter“

Von Jasmin Marjam Rezai DubielRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jasmin Marjam Rezai Dubiel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hans-Werner Götz leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der mediävistischen Vorstellungsgeschichte. Als einer der Ersten untersuchte er die Vorstellungen, Deutungen und Wahrnehmungen des Mittelalters. Zu seinem 65. Geburtstag haben nun die Herausgeber Steffen Patzold, Anja Rathmann-Lutz und Volker Scior einen umfangreichen Sammelband mit Beiträgen von Wissenschaftler aus dem In- und Ausland vorgelegt.

Der Band gliedert sich in drei thematische Blöcke. Im ersten Teil wird die Historiographie des Mittelalters beleuchtet. In der Auseinandersetzung mit der historischen Figur Vadomarius geht Dieter Geuenich der Frage nach, ob es sich um einen Alemannenkönig oder auch römischen Offizier handelte. In anderen Studien des ersten Teils stehen unter anderem die Konkurrenz zwischen Volkssprache und Latein (Wolfgang Haubrichs), die Familiengeschichte des Paulus Diaconus (Jörg Jarnut), die implizite Kritik an dem Verhältnis zwischen König und Klerus (Dieter von der Nahmer) sowie eine kontrovers diskutierte Geschichtsschreibung über das sächsische Herzogtum (Matthias Becher) und eine Untersuchung der Historia Constantinopolitana (Verena Epp) im Fokus der Aufmerksamkeit. Hervorzuheben ist vor allem Peter Segls Auseinandersetzung mit den Geschichtsvorstellungen Otto von Freisings, da er sich nicht nur auf historische Untersuchungen beschränkt, sondern auch einen überaus interessanten Beitrag zur mittelalterlichen Geschichtsphilosophie leistet. Die Sonderstellung Ottos resultiere aus dessen außergewöhnlicher Geschichtsphilosophie. Von der historiographischen Tradition des Christentums und Heilsgeschichte ausgehend entwerfe Otto eine neue geschichtsphilosophische Konzeption nach dem Muster der sogenannten „Lebenskurve“. Mit Otto von Freising, genauer mit der Entstehungsgeschichte der Gesta Frederici, beschäftigt sich auch Thomas Zotz. Matthias Springer nähert sich literaturgeschichtlichen Fragen in seinem Aufsatz über das Sagenhafte aus der Geschichtswissenschaft. Mit einer Studie über das Bild der ‚Anderen‘ im Deutschlandordensland Preußen schließt der erste Block des Bandes.

Im zweiten Teil geht es um Begriffe, Bilder und Vorstellungen im Mittelalter. Anne-Marie Helvétius beginnt mit der Frage nach dem Bild des Abts in der Zeit der Merowinger. Hedwig Röckelein analysiert die soziale, ökonomische und religiöse Stellung der Matrona im Frühmittelalter. Neben dieser genderspezifischen Untersuchung ist es vor allem Volker Sciors Betrachtung über die Vorstellungen über den Zugang zum König in der Karolingerzeit, welche den Leser in seinen Bann zieht. Der Vorstellung über den idealen König, der immer ein offenes Ohr haben sollte, wird anhand von verschiedenen Quellen aus der Karolingerzeit nachgespürt. Ein weiteren herausragenden Beitrag leistet Bruno Reudenbach mit seinem Aufsatz über mittelalterliche Darstellungen des Sündenfalls. Er nimmt dabei insbesondere den Körper in den Blick, anhand dessen sich die gestörte Ordnung Gottes in bildlichen Darstellungen ablesen lasse. Vor dem Hintergrund deformierter Körper wird laut Reudenbach die epochale Bedeutung Dürers Stich von Adam und Eva (1504) evident, der mit der vorherigen deformierten Darstellung des Sündenfalls bricht. In weiteren Beiträgen konzentrieren sich die Wissenschaftler auf die Bedeutung des Schwarzen Schafes in Adelsfamilien (Alheydis Plassmann) und auf den Petrusstab (Philippe Depreux), dessen Übergabe eine politische Bedeutung zukam, sowie auf „Bits and Pieces“ (Janet Nelson) und die Scolica enchiriadis, einem fränkischen Musiktraktat (Rosamund McKitterick). Neben diesen Forschungen über verschiedene Aspekte bestimmter Vorstellungen im Mittelalter zieht ein weiterer Beitrag das Interesse auf sich. Ingrid Baumgärtner untersucht die textliche und bildliche Darstellung des Heiligen Landes bei Burchard von Monte Sion. Im Zentrum stehen hierbei die von der Forschung vernachlässigten Visualisierungen, die mit den Texten interagieren. Régine Le Jan legt eine Analyse der Emotionen in der Zeit der Karolinger vor und fragt nach deren politischen Implikationen.

Im letzten und wesentlich kürzeren Teil beschäftigen sich drei Aufsätze mit den Vorstellungen vom Mittelalter in der Neuzeit von den Moskowitern bei Michail Bojcov bis hin zu Alessandro Manzoni bei Ian Wood und Casimir Barrière-Flavy bei Bonnie Effros.

Während dem letzten thematischen Block etwas weniger Gewicht beigemessen werden kann, ist es vor allem der zweite Teil, der ganz unterschiedliche Untersuchungen – ob gender- oder musiktheoretische Fragen – über Begriffe und Vorstellungen im Mittelalter vereint und auf diese Weise die mediävistische Forschung bereichert.

Mit der differenzierten Ausrichtung des Bandes wird nicht nur Hans-Werner Goetz’ Bedeutung für die Mediävistik, sondern auch die Heterogenität der Epoche ersichtlich. Werden dem Mittelalter oft homogene Geschichtsphilosophien und -vorstellungen nachgesagt, so widerlegen die wissenschaftlichen Beiträge des Sammelbands diese Vorurteile. Gerade die mitunter völlig andersgearteten theoretischen Herangehensweisen und Fragestellungen machen die Stärke des Sammelbands aus.

Titelbild

Steffen Patzold / Volker Scior / Anja Rathmann-Lutz (Hg.): Geschichtsvorstellungen. Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter.
Böhlau Verlag, Köln 2012.
574 Seiten, 54,90 EUR.
ISBN-13: 9783412208981

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch