„Ich kann die Liebe nicht vertagen“

Über die Neuausgabe von Christa Wolfs fantastischer Erzählung „Unter den Linden“

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Prosa sollte danach streben, unverfilmbar zu sein“, betonte Christa Wolf einst in ihrem Essay „Lesen und Schreiben“. Mit „Unter den Linden“ legte sie nur wenig später dann eine kleine Erzählung vor, die nicht nur unverfilmbar, sondern auch kaum nacherzählbar ist. „Eine Inhaltsangabe von ,Unter den Linden‘ abzugeben ist eigentlich eine unmögliche Aufgabe“, stellte Katharina von Ankum in ihrer Arbeit zur „Rezeption von Christa Wolfs Werk in Ost und West“ knapp fest. Womöglich ist das einer der Gründe, warum „Unter den Linden“ in der Regel eher wenig Aufmerksamkeit bei Forschern sowie Leserinnen und Lesern zuteil wurde − und wird. Nach der Neuausgabe der Erzählung, die nun der Insel Verlag in der Reihe „Insel-Bücherei“ vorgelegt hat, ist zu hoffen, dass diese fantastische kleine Geschichte nun doch noch einmal neu entdeckt wird.

Mit der Erzählung „Nachdenken über Christa T.“, deren problematische Veröffentlichungsgeschichte in der DDR einen ganzen Dokumentationsband füllt, wurde Christa Wolf Ende der 1960er-Jahre endgültig auch im Westen bekannt. „Unter den Linden“ entstand 1969 im direkten Umfeld von „Christa T.“. Gemeinsam wurde der Text mit der im Titel an E.T.A. Hoffmann anschließenden Wissenschaftssatire „Neue Lebensansichten eines Katers“ und der Auftragsarbeit „Selbstversuch“, einem Text für eine Geschlechtertausch-Anthologie, in dem Band „Unter den Linden“ veröffentlicht. In der DDR erhielt der Titel den Zusatz „Drei unwahrscheinliche Erzählungen“. Unwahrscheinlich sollte die Geschichte in der Tat sein, stellt sie doch eine Erzählung dar, in der Märchenmotive, intertextuelle Anspielungen (von Ingeborg Bachmann bis Goethe), verschiedene Zeitebenen und Episoden in vielschichtiger Weise miteinander verflochten und verwoben sind. Es handelt sich dabei letztlich um den Gedankenstrom und die Erinnerungen einer Ich-Erzählerin, die im Traum die berühmte Straße „Unter den Linden“ entlang geht. Ziel ist die Selbstfindung der Erzählerin, die sich jedoch zunächst im Traum zu verlieren scheint. Dabei taucht der heutige Leser ein in eine andere Zeit, in das Ost-Berlin der 1960er-Jahre, in die Zeit des real existierenden Sozialismus − und findet doch allgemeingültige Themen und Sentenzen, darunter die Geschichte einer zerbrochenen Freundschaft, die Karrieregeschichte eines jungen Dozenten, der sich beruflich anpasst und verbiegt, und die Liebesgeschichte eines jungen Mädchens, deren unglückliche Liebe zu einem verheirateten Dozenten sie aus der Bahn wirft. Wolfs Erzählexperiment enthält auch ganz wunderbare Sätze wie diese: „Ich kann die Liebe nicht vertagen. Nicht auf ein neues Jahrhundert. Nicht auf das nächste Jahr. Um keinen einzigen Tag.“ Kein Zweifel: Ein träumerischer Gang „Unter den Linden“ lohnt sich auch heute.

Titelbild

Christa Wolf: Unter den Linden. Erzählung.
Mit Aquarellen von Harald Metzkes.
Insel Verlag, Berlin 2012.
75 Seiten, 13,95 EUR.
ISBN-13: 9783458193555

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