Radikale Promiskuität der Geschlechter

Klaus Kreimeier hat eine kenntnisreiche und argumentativ weithin überzeugende Kulturgeschichte des frühen Kinos vorgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für passionierte Filmbegeisterte gab es in jüngster Zeit einen besonderen Grund zur Freude. In Südamerika wurde eine als verloren geltende kolorierte Kopie des 1902 uraufgeführten Films „Le Voyage dans la Lune“ von Georges Méliès gefunden. Mehr noch, das als erster Science-Fiction-Film geltende Meisterwerk des Erfinders so manchen cineastischen Tricks ließ sich restaurieren und ist seit einiger Zeit auf DVD zu erhalten. Der ganz überwiegende Teil der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts produzierten Filme dürfte allerdings tatsächlich für immer verloren sein. Wie enorm der Verlust ist, führt Klaus Kreimeier 2011 in der unter dem Titel „Traum und Exzess“ erschienenen „Kulturgeschichte des frühen Kinos“ anhand des erhaltenen Bestands eindrucksvoll vor Augen.

Neben dem Deutschen Kino der Jahrhundertwende widmet der Autor seine besondere Aufmerksamkeit namentlich dem französischen und dem englischen Kino sowie selbstverständlich dem US-amerikanischen. Der dabei geradezu verschwenderisch dargebotene Faktenreichtum zeugt von Kreimeiers stupenden Kenntnissen. So wartet der Autor etwa mit unzähligen kurzen Inhaltswiedergaben von selbst kurzen, oft nur wenige Minuten dauernden Filmen auf. Es ist also keineswegs übertrieben, wenn Kreimeier eingangs verspricht, seine „Kulturgeschichte des frühen Kinos“ nähere sich dem „lange vernachlässigten Bestand“ mit „liebevoller Neugier und analytischer Sorgfalt“, um so die „Eigenart“ und den „ästhetischen und inhaltlichen Reichtum“ der frühen Filme zu würdigen.

Oft scheint der Autor kaum zu wissen, wohin mit all seinen Kenntnissen. Denn die überbordende Fülle an Informationen ist gelegentlich fast schon ebenso atemlos aneinandergereiht, wie sich die Menschen im ‚Zeitalter der Nervosität‘ gefühlt haben dürften. Gelegentlich holt der Autor jedoch auch einmal kurz Atem und lässt eine geradezu aphoristische Sentenz hervorblitzen, die etwa das „Industrieprodukt Film“ als „Meterware“ apostrophiert.

Doch belässt es der Band, wie es sich für eine Kulturgeschichte gebührt, nicht bei Inhaltsangaben der Filme, sondern situiert sie im historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Auch legt Kreimeier nachvollziehbar dar, warum er bereits im Attraktionskino vereinzelte Elemente des Erzählens entdeckt, und plausibilisiert die These, „dass sich schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts wenn auch in embryonaler Form, kinematographische Erzählweisen herauskristallisieren“. Allerdings sind „die Attraktion, die spektakuläre ‚Nummer‘, der exzentrische Auftritt“ mit der Entwicklung langer und abendfüllender Spielfilme keineswegs verschwunden. Eine These, von deren Richtigkeit man sich noch heute in – fast – jedem Blockbuster überzeugen kann.

Der eigentliche Untersuchungszeitraum ist jedoch die Zeit vor der Entwicklung längerer Spielfilme, also bis etwa 1910. Damals stellten die aufkommenden und Jahrmarktsaufführungen ablösenden „ortsfesten“ Kinos „kurze und mittellange Streifen aus den unterschiedlichsten Genres (Drama, Komödie, Groteske, Landschaftsbilder, geographische Sehenswürdigkeiten, ‚Aktualitäten‘) zu einem Programm zusammen“, das sowohl der Sensationslust und der Neugierde wie auch den Unterhaltungs- und Informationsbedürfnissen des Publikums nachkommen sollte. Dabei „kristallisierte“ sich das Kino dem Autor zufolge insbesondere während der „Experimentierphase“ von 1900 bis 1908 als „Laborstätte eines neuen Sehens und als Wahrnehmungsdispositiv für die sinnliche und soziale Erfahrung des frühen 20. Jahrhunderts heraus“.

In eben diese Zeit fiel nicht von ungefähr auch die „Einführung staatlicher Filmzensur“, die in Deutschland 1906 erstmals zuschlug. Anlass war ein Streifen, der den ersten erfolgreichen Banküberfall unter Einsatz eines motorisierten Fluchtfahrzeugs fiktionalisierte und sich dabei über die auf Pferdekutschen angewiesene Polizei lustig machte. Von nun an begleitet die Zensur die deutsche Filmproduktion „mit Argusaugen“. Ihr fiel auch der Film „Vernunft der Herzen“ zum Opfer, der „konsequent aus weiblicher Perspektive und mit viel Witz die Komplizenschaft zweier Freundinnen zeigt, die flinken Tricks, die sie anwenden, um den ‚Seitensprung‘ der einen vor dem Besitzwahn des Ehemanns zu verdecken“.

Zur staatlichen Zensur gesellte sich die sogenannte Kinoreformbewegung die keinesfalls mit der alternativen und nicht selten anarchoiden Lebensreformbewegung verwechselt werden darf, wie sie etwa am Monte Verità erblühte. Anders als die sonnenbadenden NaturköstlerInnen am Berg der Wahrheit verfocht die Kinoreformbeweg erzkonservative Anliegen. So ist ihr etwa die Schöpfung des Begriffs „Schundfilm“ anzulasten. Statt unterhaltsame oder gar noch ‚schlimmere‘ Filme zu produzieren, galt es ihren Vorstellungen zufolge, „das Medium für das Bildungswesen, für wissenschaftliche Vorträge, für Schule und berufliche Ausbildung zu domestizieren und zu ‚veredeln‘“. Die „‚wildwüchsigen‘, anarchischen, die Schaulust stimulierenden Elemente“ sollten dafür „so weit wie möglich zu reduziert“ und „ihre verderblichen Einflüsse aus dem öffentlichen Leben herausgehalten“ werden. Wie Kreimeier darlegt, führten ihre VerfechterInnen zwar stets den Begriff „Reform“ im Munde, doch ging es etlichen von ihnen in Wirklichkeit um ein „pauschales Filmverbot“.

Eine Antwort der Cineasten ließ allerdings nicht lange auf sich warten. 1912 entstand in Deutschland die Komödie „Wie sich der Kientopp rächt“, die nicht nur die „aggressive Propaganda radikaler ‚Kinoreformer“ der Lächerlichkeit preisgab, sondern den Zuschauenden ein „selbstreferentielles Spiel ‚Film im Film‘“ bot. Ansonsten machten sich die zahlreichen satirischen Kurzfilme gerne über die „töricht und maschinenhaft agierende Ordnungsmacht“ lustig. Manch einer weckte Sympathie für die Übeltäter oder zeigte sogar den „Triumph der bösen Tat“. Der 1912 angelaufene Film „Aus eines Mannes Mädchenzeit“ sprenge den „Rahmen nationaler, gar wilhelminischer Geschmacksvorschriften“ schließlich „vollends“, indem er „die Dekonstruktion der männlichen Identität auf die Spitze treibt und ihre Selbstdemontage nicht nur als Travestie, sondern als radikale Promiskuität der Geschlechter zelebriert.“

Goutiert Kreimeier auch offenbar das von dem Film in Szene gesetzte Spiel mit den Geschlechtern, so sind seine schreibenden Gewährsleute – zeitgenössische Literaten, Philosophen, Journalisten, Kulturschaffende und Wissenschaftler, Ärzte und Psychiater – doch fast ausnahmslos Männer. Frauen kommen hingegen vornehmlich als Schauspielerinnen vor (und weniger zu Wort). Etwa Henny Porten und vor allem die vom Autor als „Naturtalent aus dem Geist der Obstruktion“ bewunderte Dänin Asta Nielsen. Sie spielte die Titelrolle in dem Streifen „‚Die Suffragette‘ (1913), den Kreimeier als „Programmfilm für die Frauenemanzipation“ charakterisiert.  Nielsens wichtigster Vorkriegsfilm aber war „‚Die Sünden der Väter“, in dem sie „die Psychologie des Geschlechterkampfs, männlicher Ausbeutungs- und weiblicher Widerstandstrategien ausleuchtet“.

Immerhin aber würdigt Kreimeier nicht nur Schauspielerinnen sondern mit Alice Guy auch eine Regisseurin, „deren Leistung die Filmgeschichtsschreibung über Jahrzehnte nicht wahrgenommen, dann geleugnet und lieber den männlichen ‚Wegbereiterin‘ zugeschrieben“ hat, wie er zurecht klagt. „Die größte und zuverlässigste Filmdatenbank im Internet, ‚The Complete Index to World Film since 1895‘ führt Alice Guy bis heute nur in Verbindung mit dem Namen ihres britischen Ehemanns Blanche.“ Dabei sind ihr nicht weniger als 500 Filme „zu verdanken“.

Im Zusammenhang mit der damaligen cineastischen Darstellung von Frauenemanzipation und Geschlechterverhältnissen ist allerdings auch zu sagen, dass Kreimeiers ‚Lesart‘ dieser Filme nicht in jedem Fall nachvollziehbar ist. So erklärt er etwa, Johann Schwarzers Film „Die drei lustigen Mädchen“ sei „frei von Pornographie“ und besteche vielmehr ebenso wie andere einschlägige Filme dieses Regisseurs durch „Anmut, Witz und unverklemmte Präsentation“. Die drei Protagonistinnen „benötigen“ bei ihrem Striptease „weder den Mann als Akteur noch den männlichen Blick als diegetische Instanz“, sondern bleiben „unter sich, lassen leicht beschwipst nacheinander die Hüllen fallen, tänzeln durch den Salon und erfreuen sich gegenseitig ihrer entblößten Körperteile“, konstatiert er ganz naiv, als gebe es keine Pornograpfie für Männer, die Frauen beim Sex zeigt. Andere Filme Schwarzers mit Titeln wie „Baden verboten“, „Beim Photographen“, „Besuch in der Theatergarderobe“, „Die drei lustigen Mädchen“, „Das eitle Stubenmädchen“, „Der Traum des Bildhauers“ (alle 1907) oder „Im Maleratelier“ (1909) spielen Kreimeier zufolge „ironisch mit der Anwesenheit des Mannes am ‚falschen‘ Ort (in der Theatergarderobe wird er hinter die spanische Wand verbannt) oder stellen zügellosen männlichen Sexismus zur Schau (Im Maleratelier ist ein Kunde, unter den Augen seiner Ehefrau hin und her gerissen zwischen einem weiblichen Akt und dem Modell).“ Immerhin räumt Kreimeier ein, dass „die männlichen Begierden“ hier „zweifellos der primäre Adressat“ sind. „Der kulturellen Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz und des weiblichen Selbstwertgefühls“ leisteten die Filme ihm zufolge dennoch „einen erheblichen Dienst“, denn die männlichen Begierden „konkurrieren“ in ihnen mit dem „weiblichen Interesse, dem eigenen, in der Öffentlichkeit zensierten Verlangen auf der Leinwand zu begegnen und weibliche Handlungsoptionen zu thematisieren.“ Das überzeugt kaum.

Besonders fragwürdig aber ist seine Interpretation des achtminütigen Films „Die berühmte Löwenbändigerin Tilly Bebee“ aus dem Jahr 1908, dessen Inhalt er dahingehend zusammenfasst, dass die Protagonistin „den gefügigen (und etwas phlegmatischen) Bestien ihren Kopf zum Fraß und ihren schönen Körper ganz unmissverständlich zur Liebe anbietet“. Kreimeier meint nun, damit werde „dem weiblichen Blick gleichzeitig Identifikation und Entgrenzung der (sexuellen Wünsche) geboten“, während die Männer im Publikum ihre „auf Unterwerfung zielenden Phantasien mit einer übermächtigen, zudem tierischen Konkurrenz zu teilen“ habe. So riskiere der Film „bewusst die Grenzüberschreitung in ein verbotenes Paradies, zu dem die männliche Wollust keinen Zutritt hat“. Dabei sind es doch weniger weibliche Phantasien, die sich mit dem Sex mit Tieren befassen, als vielmehr männliche. Und bekanntlich werden Pornos, die Frauen und Tiere sexuell interagieren lassen, für Männer gedreht.

Bei aller offenkundigen Sympathie für die Frauenemanzipation argumentiert Kreimeier also keineswegs immer in deren Sinne, wie gerade die Fehlinterpretation des Films über die Löwenbändigerin zeigt. Dies ist die eine große Schwäche seiner insgesamt mit Gewinn zu lesenden Kulturgeschichte des frühen Kinos.

Titelbild

Klaus Kreimeier: Traum und Exzess. Die Kulturgeschichte des frühen Kinos.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2011.
410 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055520

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