Roman mit Schussfahrt

Michael Roes schreibt mit „die Laute“ eine Parabel über das Anderssein und die Freundschaft

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Bücher des Philosophen, Psychologen, Ethnologen und Anthropologen Michael Roes gehen leider zu oft im Strudel der medialen Aufmerksamkeitsökonomien unter. Dabei sind es ausnahmslos hervorragende Bücher, die genau das vollziehen, was der deutschen Literatur, folgt man dem immer gleichen Lamento des Feuilletons, abgeht: Welthaltigkeit. Roes’ Romane bersten geradezu vor Welt. Aber offenbar ist das nicht jene Welt, die die Literaturkritik meint und das Publikum wünscht.

Roes, der von vielen geschätzte, aber auch häufig unterschätzte Autor, Regisseur und Erkunder fremder Welten und Länder, schreibt mit seinem neuen Roman das fort, was die meisten seiner Werke auszeichnet: die konfliktträchtige, aber immer auch fruchtbare Begegnung zwischen Orient und Okzident. „die Laute“ ist so ein Roman, in dem der neunundzwanzigjährige gehörlose Jemenit Asis im heutigen Krakau von seiner Kindheit in Ibb und Aden berichtet. Er beschreibt das an einer Stelle als seinen „Kindheitsroman“, in dem er von sich selbst in der dritten Person erzählt, als kenne er diesen Jungen nicht mehr, als müsse er sich distanzieren, um über sich selbst schreiben zu können.

Die Rahmenhandlung spielt in unserer unmittelbaren Gegenwart, doch Asis lebt seit zehn Jahren in Krakau, dort schreibt er nicht nur an seinem „Kindheitsroman“, parallel dazu arbeitet Asis als Komponist an einer Oper über den geschundenen Marsyas, ein Projekt, das mit dem Motiv der gewaltsamen Häutung auch Asis’ eigene Wandlungen widerspiegelt. Die Arbeit an der Oper und seine soziale Prekarität zermürben Asis, er verlässt kaum noch seine Wohnung, er geht zwar noch arbeiten, kehrt aber sofort danach heim, um an seiner Oper zu arbeiten. Einzig die Chats mit seinem in die USA emigirierten Freund Said lassen ihn kurzzeitig das wacklige Gefüge seines Lebens vergessen. Immer mehr lässt er sich gehen und registriert das mit der gleichen Abgeklärtheit, mit der er auf seine spärlichen Beziehungen zu anderen Menschen reagiert. Das Leben in der Fremde sät sein Gift langsam, aber sicher. Isolation, sozialer Ausschluss und der drohende Kontrollverlust über sein eigenes Leben werfen das Schreckensbild der Ich-Auflösung schon an die Wand. Das ist es, dem Asis sich stellen muss.

Asis ist anders. Seine Andersheit ist Teil seines Lebens, seit er als Dreizehnjähriger von einem Blitz getroffen wurde. Die erste Andersheit fing unmittelbar danach an, denn seitdem hört er ständig die traditionelle jemenitische Lautenmusik, was ihn zunächst verstört und später umso mehr fasziniert; so sehr, dass er Laute spielen lernt und meisterhafte Fähigkeiten darin entwickelt. Der Lohn ist die allmähliche Entfremdung von seinen Freunden. Bald spielt Asis in jugendlicher Verliebtheit jeden Abend für die Schwester eines seiner Freunde, die aber bereits einem anderen versprochen ist. Im Zorn hetzt deren Vater die Brüder auf, die Asis die Hände brechen und Säure in seine Ohren schütten. Von da an ist Asis taub. Die erste Andersheit der musischen Begabung im Lautenspiel wird abgelöst von einer zweiten, körperlichen Andersheit, der Taubheit, die eine umfassende gesellschaftliche Isolation auslöst, im Jemen wie später auch in Polen.

Denn in Krakau ist Asis nicht nur ein Gehörloser. Er ist in jeglicher Hinsicht anders als seine Umgebung. Äußerlich fällt er mit seiner dunklen Haut auf. Und dazu ist er noch Muslim in einer Kultur, in der Muslime generell beargwöhnt werden. Seine Andersheit spürt er nicht nur, aber vor allem im Umgang mit seiner Herkunft und seinem Glauben, was schließlich dazu führt, dass er seinen Job als Paketverteiler auf dem Flughafen verliert, weil jemenitische Terroristen mit Sprengstoff gefüllte Druckerpatronen in die Welt schickten. Doch seine Andersheit spiegelt sich auch in Rafał, einem jungen polnischen Komponisten, den Asis nach einem Wettbewerb kennenlernt. Rafał ist auf seine Art und in seinem Kontext anders. Für einen Homosexuellen im katholisch geprägten Polen geht er sehr unbeschwert mit seiner Sexualität um. Er verliebt sich in Asis, der seine Avancen aber strikt abwehrt und Rafał mit eben jener gefühlsmäßigen Abgestumpftheit auf Distanz hält wie den Rest seiner Umwelt. Beide Figuren ähneln sich in ihren Verhaltensweisen. Die selbe Unbeschwertheit, die Asis seine Liebe auf der Laute mitteilen ließ, ist auch Rafał eigen. Und wie Asis, wird auch Rafał Opfer eines brutalen Überfalls, der ihn zu einem Umdenken führt, der ihm bewusst macht, dass er anders ist und auch die Folgen daraus tragen muss. Rafał zieht seine Lehre, er gibt die klassische Musik auf, ohne aber das Feld der Musik zu verlassen.

Im Roman treffen diese beiden Formen der Andersheit aufeinander. Asis entwirft seine Oper bewusst gegen die gewohnten Hörkonventionen, weil er als Gehörloser gar nicht anders kann. Er ist sich darüber im Klaren, dass seine Oper verstören muss. Doch gerade diese Verstörung ist es, die Asis mit Rafał zusammenbringt. Der junge polnische Komponist hat Erfolg mit seinen klassischen Stücken, gewinnt Wettbewerbe und wird von der Kritik gefeiert. Er lebt das Leben eines Dandys – aber er fühlt sich zu Asis eben nicht nur musikalisch hingezogen. Er besucht ihn, lädt ihn zum Essen ein, lernt sogar Gebärdensprache, macht Ausflüge mit ihm und versucht, Asis aus seinem Trott herauszuholen. Doch Asis stößt das im Grunde ab, weil er eine Schuld Rafał gegenüber empfindet, der ihm nach einem nächtlichen Überfall geholfen hatte.

In dieser Haltung, zwischen Extremen changierend, die keine sind, verweigern sich die Bücher von Michael Roes jeglicher Exotismen. Das Fremde wird nie stereotyp vom Eigenen abgegrenzt, die eigene, westliche Kultur nicht über andere erhoben. Es sind Begegnungen auf Augenhöhe, in denen sich der intime Kenner fremder Länder und Kulturen offenbart. In seinen Romanen wird man immer daran erinnert, dass es auch in den uns fremden Kulturen bekannte Verhaltensmuster, Denkweisen und Handlungen gibt, dass das Fremde uns oft ähnlicher ist als wir denken. Und doch müssen wir uns daran abarbeiten, um zum Kern des Eigenen vorzudringen. Auch im Roman ist das so, wenn Asis und seine Freunde etwa wie selbstverständlich die täglichen Gebete ignorieren, aufsässig sind gegen Autoritäten, nicht regelmäßig in die Moschee gehen oder Asis’ Freund Said ein vollkommen normaler Computernerd ist. Asis’ Reflexionen ähneln manchmal so sehr denen über uns selbst, dass Asis’ jemenitische Herkunft schnell in Vergessenheit gerät. Aber dann ist da dieses plötzliche Aufflackern aus der fremden Kultur stammender Vorbehalte, Abneigungen und Bedenken, die das Bild nicht etwa stören, sondern um eine weitere Facette erweitern. Das Aufeinandertreffen von Kulturen wird bei Roes nicht als clash stilisiert, immer stehen die einzelnen Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Fehlern und Makeln, ihren Meinungen und Handlungen im Mittelpunkt. Es sind keine Typen, die hier bloß installiert werden, Roes entwirft komplexe Figuren, die nicht für diese oder jene Kultur, diese oder jene Denkweise, diese oder jene Ideologie stehen, sondern ausschließlich für sich.

Asis und Rafał arbeiten sich am jeweils anderen ab. Ihre Freundschaft kann erst entstehen, als beide sich in ihrem eigenen Anderssein kennengelernt und akzeptiert haben. Der Roman entwickelt diese erst am Ende beginnende Freundschaft nicht weiter, aber er weitet sie in die Zukunft aus. Roes findet dafür ein starkes Bild, das dem Roman eine Struktur gibt: Es ist die langgezogene und den Roman beständig unterbrechende Beschreibung, wie Asis das erste Mal Fahrrad fährt, unaufhaltsam einen Berg hinunter, dem Rad ergeben, euphorisch und ängstlich zugleich. Dass sich hier zwei Menschen endlich gefunden haben, ist der eigentliche Kern des ganzen Romans. Erst in der letzten Sequenz fahren Asis und Rafał gemeinsam den Berg hinab. Diese Schussfahrt bildet den zeitlichen Schlusspunkt der Handlung und ist doch erst ein Anfang. Im Nachholen dieses Kindheitserlebnisses, in der Unbeschwertheit dieses nicht enden wollenden Augenblicks, vereinen sich zwei Jungen, zwei Männer, die in ihrem je eigenen Anderssein zueinandergefunden haben.

Michael Roes findet für all das eine Sprache, die in starken, nie aufgesetzt wirkenden Bildern vom Verlieren und Finden erzählt. Vom Verlieren kindlicher Unbeschwertheit nicht nur zwischen den Zeiten, sondern zwischen und in kulturellen Räumen. Schmerzhafte Verluste sind der Treibstoff dieses stillen, aber nicht lautlosen Romans. Aber der Roman gewinnt an diesen Verlusten. Er gewinnt im Aufeinandertreffen kultureller Andersheiten genau jene Welthaltigkeit, die oftmals gefordert wird. Und wie Asis und Rafał ihre gewonnene Freundschaft erst nach dem Buch werden genießen können, gewinnt auch der Leser erst nach der Lektüre dieser wahrhaft waghalsigen Schussfahrt.

Titelbild

Michael Roes: Die Laute. Roman.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
526 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783882219869

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