Die Weltstadt der Momente

„New York, New York“ versammelt Maeve Brennans Kolumnen aus den 1950er und 1960er-Jahren

Von Nathalie MispagelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nathalie Mispagel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

New York hat den Ruf als Stadt der Extreme, als Ort, wo sich alle Facetten des Daseins bündeln, darstellen, fortentwickeln. Sie bildet einen globalen Mikrokosmos, vielleicht gar den universalen Hot Spot überhaupt. Fast könnte man darüber vergessen, dass New York für Millionen Menschen Heimat oder wenigstens vorübergehender Wohnsitz ist – und insofern ganz viel Alltag für ganz viele Durchschnittsbürger bedeutet.

Diesen hat die irisch-amerikanische Schriftstellerin Maeve Brennan (1917-1993), über 30 Jahre Journalistin beim „New Yorker“, mit ihren essayhaften Reportagen ein ebenso unspektakuläres wie bewegendes Denkmal gesetzt. 47 Texte, die in der „The Talk of the Town“-Kolumne zwischen 1953 und 1968 erschienen sind, wurden für das Buch „New York, New York“ zusammengestellt. Geografisch greift der Titel etwas zu großzügig aus, beschränken sich Maeve Brennans unvoreingenommene, aber nie unbeteiligte Betrachtungen doch meist auf ein Gebiet zwischen Midtown Manhattan und Greenwich Village. Wenn sie durch die Straßen wandelt und ihren Blick über Passanten wie Szenerie schweifen lässt, tritt sie in die Tradition des Flaneurs, hinterlässt freilich eigene literarische Spuren. Präzise werden kleine Gesten, gewöhnliche Handlungen, banale Prozesse beobachtet und als quasi-fotografischen Schnappschuss beziehungsweise Miniatur-Filmszene mit direkter, konzentrierter Sprache gebannt. Es sind Collagen, montiert aus der Wahrhaftigkeit der Gegenwart.

Vögel in einem winzigen Käfig, ein irritierter Junge in einem Drugstore, Demonstranten ohne Ziel, Eheleute beim Restaurantbesuch, eine Bar mit zusammengewürfelter Kundschaft während eines Regenschauers: Ohne Maeve Brennan wären jene Momente in der riesigen Metropole verloren. Im Einzelnen mögen sie über den Augenblick hinaus kaum bedeutsam sein, in der Gesamtheit verlebendigen sie jedoch die City von innen heraus. Allein das Alltägliche hält die Stadt am Laufen, das Unspektakuläre gibt ihr Kontinuität, das Gewohnte bestimmt ihren Rhythmus. Das ist das Geheimnis hinter allem Großen. Selbst hinter New York.

Schon die Titel der skizzenhaften Essays, etwa „Der finstere Fahrstuhl“, „Ein kleiner weinender Junge“ oder „Ich schaue aus den Fenstern eines alten Hotels am Broadway“, beziehen sich bewusst auf örtliche wie emotionale Nebenschauplätze. Es ist die „zufällige Natur unseres Lebens“, die Maeve Brennan einfangen will: „Manche Menschen verleihen allem, was sie berühren, Bedeutung […]“. Mit ihrer sezierenden, extrem subjektiven Aufmerksamkeit, die sie dem Unscheinbaren, dem Herkömmlichen schenkt, verschafft sie ihm gleichsam Bedeutung, ohne es deswegen deuten zu müssen. Sie weiß: „Andere Städte sind mysteriös. […] New York ist ein Mysterium.“ Und diesem Mysterium, dieser ganz großen urbanen Oper kommt man nur näher, indem man auf ihre Zwischentöne lauscht.

Darüberhinaus funktionieren Maeve Brennans City-Vignetten ebenfalls als historische Sozialstudien, die städtische Entwicklungen und architektonische Veränderungen registrieren. Sie lassen nochmals ein New York entstehen, das es so nicht mehr gibt, ja mehr: Dessen Bewohner es so nicht mehr gibt. Denn die Metropole spiegelt stets ihre Menschen wider und umgekehrt. Wenn sich eins umformt, wandelt sich ebenfalls das andere. Nur das Beiläufige bleibt zeitlos. Solche Wechselwirkung wird von der Autorin kunstvoll reflektiert, indem sie den Kontakt zur Stadt über deren Bewohner sucht – mit denen sie jedoch kaum in kommunikative Interaktion tritt. Beobachtung reicht ihr. Von der Mimik der Leute vermag sie auf die geistige Haltung zu schließen, von Gebärden auf Stimmungen, von hingeworfenen Sätzen auf den Charakter. Ihr Scharfsinn ist ihre journalistische Lupe, literarisch akzentuiert durch reservierte Ironie und veredelt von pragmatischer Poesie.

So entsteht aus einem simplen Kauf die beinahe philosophische „Eine Schuhgeschichte“, welche von Frust und Freude, Jugend und Alter, vor allem von der Magie des guten Lebensmomentes erzählt. Maeve Brennan schärft mit ihren dichten, gleichzeitig schwebenden Kolumnen die Sinne für New York, „vielleicht jenes New York, das noch keiner gefunden hat.“

Titelbild

Maeve Brennan: New York, New York. Kolumnen.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2012.
283 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783869304663

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