„… und sah unaussprechliche Worte“

Patrick Roths mitreißender Josephs-Roman „Sunrise“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der reizvollste, gelungenste, am breitesten diskutierte Beitrag der deutschsprachigen Literatur“ zur Thematisierung der Gottesfrage „stammt (…) von Patrick Roth (geboren 1953)“, schreibt Georg Langenhorst in seiner materialreichen Studie „’Ich gönne mir das Wort Gott‘. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur“. Mit seinem neuen Roman „Sunrise. Das Buch Joseph“ knüpft Roth an diese Tradition an, in die er sich unter anderem mit Texten wie „Riverside“, einer „Christusnovelle“, wie der Untertitel der 1991 erschienenen Erzählung lautet, „Johnny Shines oder Die Wiedererweckung der Toten“ (1993) oder „Corpus Christi“ (1996) eingeschrieben hat. Und doch beginnt, wie die Heidelberger Germanistin Michaela Kopp-Marx anlässlich der zweiten Heidelberger Poetik-Dozentur von Patrick Roth in diesem Sommer ausgeführt hat, mit „Sunrise“ offenbar eine neue Phase des ebenso bild- wie wortmächtigen Schriftstellers, der gleichermaßen tiefenpsychologisches wie filmisches Wissen zu einer faszinierenden Synthese zu verbinden vermag. So ist „Sunrise“, um es gleich vorweg zu sagen, ein nicht ganz leicht zu lesendes, gleichwohl traumhaft schönes Buch über Joseph von Nazareth, den Ziehvater Jesu – ein Roman, der sich zu Recht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012 findet.

Überwiegend positiv reagierte, wenn ich es recht sehe, auch die Kritik. Beispielsweise spricht Eckhard Nordhofen in der „Zeit“ von den „Kathedralen der Imagination, in die er [sc. Roth, A.P.K] uns mitnimmt. Dort aber zeigt sich die sprachliche Meisterschaft des Drehbuchschreibers Roth. […] Die Handwerkskunst des formbewussten Traumschreibers besteht aber auch darin, dass er seinen spannenden Plot nach allen Regeln orientalischer Meistererzähler konstruiert.“

Und Michael Braun lobt im „Kölner Stadt-Anzeiger“ wie auch Samuel Moser in der „Neuen Züricher Zeitung“ die Aktualität, die Gegenwärtigkeit Josephs mittels „Archaisierung“ (Moser), wobei der Roman „Breitleinwand in Technicolor pur“ sei. Braun resümiert: „Dieser Joseph ist eine sehr neuzeitliche Figur: religiös musikalisch, aber an seinem Glauben zweifelnd, demokratisch selbst gegenüber dem Raubgesindel, aber von der Gewalt versucht. Roths Joseph geht den Dingen auf den Grund. Kein Zweifel – der Autor erzählt eine biblische und zugleich moderne Geschichte, temporeich, kunstvoll verzögernd, mit präzisen Einstellungen auf Menschliches und Mehr-als-Menschliches.“

In der Tat: Roth erzählt – wie der gleichaltrige Arnold Stadler (Jahrgang 1954), der ebenso unnachahmlich in seinen Texten Glauben und Gottesfrage zur Sprache bringt, sagen würde – eine „sprachverschlagende“ Geschichte und das auf eine atemberaubende, „sprachverschlagende“ Art. Konstruierend dabei eine Bilderflut, packend, bezaubernd, ‚entrückend‘, wie die Rahmenerzählerin, die ehemalige ägyptische Sklaventochter Neith (Roth prononciert den Namen in seiner Heidelberger Poetik-Dozentur-Vorlesung „Näht“), über Joseph von Nazareth zu berichten weiß: „Ich kenne einen Menschen, dessentwegen Himmel und Erde geworden sind. Der hieß Joseph. Er war aber noch nicht Vater des Jesus, eures Herrn. Ausersehen war er, das heißt aber: geschaut im Gedanken Gottes von Anfang. Sieben und siebzig Jahre, bevor euch das Seil zu mir zog, ward derselbe vom Wege entrückt ins Paradies und sah unaussprechliche Worte.“

Doch der Reihe nach: Vier urchristliche Jünger, von denen nur zwei es tatsächlich nach Jerusalem schaffen, sind aufgrund eines Traums des Gemeinde-Ältesten dazu auserwählt, als im Jahre 70 die kaiserlichen Truppen Vespasians die Stadt belagern, das Grab Christi zu suchen und zu schützen: „Sollten mit Leib und Leben bewahren das Grab des Grabzertrümmerers, des Beherrschers des Todes, unseres Herrn, des auferstandenen Christus.“

Es ist jedoch nicht das Grab Jesu, das die beiden urchristlichen Jünger entdecken, sondern es ist der Leidensweg, die ebenso verwickelte wie spannende Geschichte des Träumers Joseph von Nazareth, dem das Neue Testament nur eine Nebenrolle zuweist. Roth zeichnet in sechs Büchern und 112 Kapiteln einen auf seine Träume hörenden, seine Träume entziffernden Joseph, eine Gestalt in der Abraham, Hiob, Jona, aber auch der ‚ägyptische‘ Joseph und Joseph von Arimathäa verschmelzen.

Eigentlich ist es kaum möglich, den buchstäblich dicht verwobenen Inhalt auf knappem Raum zusammenzufassen. Dennoch seien ein paar Handlungsfäden, die sich bei Roth zu einem faszinierenden Textgewebe verdichten, knapp skizziert: Josephs erster Sohn Jesus ertrinkt auf dem See bei Tiberias, weil ihn der Vater nicht festhalten kann. Joseph errichtet dem Sohn ein leeres Grabmal. Die Mutter dieses ersten Jesus stirbt bald darauf an Kummer. Gottes Befehl, seinen zweiten Sohn Jesus zu opfern, widersetzt sich Joseph. Auch als stummer Sklave unter gerät er unter Räuber, gilt seiner Familie für tot. Vor Jesu Geburt rettet Joseph einen ägyptischen Sklaven, den ein Aufseher eines römischen Landhauses beinahe zu Tode foltert. Eine Sklavin bindet ihm den Halbtoten auf den Rücken; Joseph flieht mit seiner Last nach Nazareth, legt den Sklaven in einer alten Zisterne ab, dem Ort, an dem er einst die ohnmächtige Maria, die halb in die Zisterne eingebrochen war, gerettet hatte. Als er Monate nach seiner Flucht zurückkehrt, erfährt er von Marias Schwangerschaft: „Und angewidert wollt er gehen, wollt fliehen wieder. Fliehen das Dorf, das noch nicht von seiner Rückkehr wußte. Denn Joseph schämte sich für sie.“ Und das obwohl ihm auf der Flucht schon geträumt hatte. „’Joseph. Nimm auf mein Wort und trag es aus! Denn dir wird ein Sohn geboren werden. Ihm gib zurück den Namen!‘“

Nach einem erneuten Traum nimmt er Maria zu sich: „Und Joseph gehorsamte dem Traum, den er aufnahm. Das heißt: nahm auf den Sohn und gab ihm den Namen des ersten, wie der Traum ihm Land der Vertriebenen ihn geheißen.“

Bald nach der Geburt Jesu kommt Joseph wieder an jenem Landgut vorbei, aus dem er damals den Sklaven gerettet hatte. Dabei hat er allen Grund, die Gegend zu meiden, geht er doch davon aus, dass er damals den Aufseher getötet hatte. Doch Joseph wird von Söldnern ins brennende Landgut getrieben – eine Magd meint ihn zu kennen (wie im Neuen Testament eine Magd den Simon Petrus, der wie Joseph dreimal leugnet). Dort soll er den Säugling des Hauptmanns aus den Flammen holen. Joseph rettet jedoch das „falsche“ Kind und bringt ein Sklavenkind – dank göttlicher Hilfe – aus den Flammen zurück. Es ist das Kind jener Sklavin, die Joseph einst den befreiten Ägypter auf den Rücken gebunden hatte. Später stellt sich heraus: Es war Neith, die Rahmenerzählerin von „Sunrise“.

Bis zum Berg Golgotha schließlich ist es noch ein weiter Weg. Doch möge dies vom Inhalt, der zeitweise tatsächlich spannend wie ein Krimi ist, genügen. Patrick Roth, dem „erratische(n) Solitär in der Gegenwartsliteratur“ (Wolfram Schütte in der „Wiener Zeitung“) ist mit „Sunrise“ ein eindrucksvoll-eindringlicher Roman gelungen, den ob seiner Sprache, seiner Bilder, seiner stimmigen Konstruktion mit einem dichten Motivgeflecht, auch goutieren kann, wer sich im Alten und Neuen Testament vielleicht weniger gut auskennt. Jedenfalls ist „Sunrise. Das Buch Joseph“ Roths, dessen aktuelle Heidelberger Poetik-Vorlesungen momentan via Videoclips ebenfalls wärmstens zu empfehlen sind, ambitioniertester literarischer Text zur Gottesfrage. Unabhängig von der Gottesfrage ist es ein Roman, den man auch als Text über einen zerrissenen modernen Vater auf der Suche nach dem ‚verlorenen Sohn‘ lesen kann.

Titelbild

Patrick Roth: Sunrise. Das Buch Joseph.
Wallstein Verlag, Göttingen 2012.
510 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835310513

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