Ein Walfänger und ein Schiff im Baum

Jutta Richter erzählt von Onkel Fiete und seinem Alzheimer

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Och, wie öde. Statt in den schönen, langen Sommerferien in der Stadt bleiben zu können, müssen Ole und Katharina ausgerechnet aufs Land, zu Onkel Fiete und Tante Polly nach Betenbüttel. Dabei haben sie schon alle Computerabteilungen der Kaufhäuser durch, kennen die neuesten Spiele, wissen, wann sie abtauchen müssen und wo sie in Ruhe spielen können. Und jetzt das. Aber ihre Mutter ist mit den Nerven fertig, sie braucht dringend ihre Ruhe und fährt allein weg.

Und dann gibt es kein Schwimmbad, sondern nur ein Löschteich, kein DVD-Gerät, schon gar kein Internet – gar nichts. Und Onkel Fiete ist auch nicht gerade begeistert von der Unruhe: Sie werden „alles kaputtmachen! Durch die Beete trampeln, den Hund quälen. Die Katze ärgern, die Hühner scheuchen!“ Onkel Fiete braucht seine vertraute Ordnung. Es dauert eine Weile, bis die beiden Kinder doch noch etwas finden: Sie bauen ein Baumhaus, ein Schiff im Baum. Schon lange hat Ole davon geträumt, der sowieso immer die besten Verstecke fand. Hat lange recherchiert und Baupläne ausgedruckt. Und damit ist die Langeweile vorbei.

Leicht und sommerlich beschreibt Jutta Richter dieses Sommerabenteuer, ohne mit dem pädagogischen Zeigefinger zu winken. Dass die Mutter alleinerziehend ist, wird wohltuend nebenbei erwähnt. Aber eigentlich geht es noch um etwas anderes: Denn Onkel Fiete ist nicht mehr ganz klar im Kopf. Er vergisst Sachen. Einmal erschrickt er fürchterlich, als Ole plötzlich vor ihm steht, weiß nicht mehr, wer diese Kinder sind, ist versponnen und ein bisschen tatterig. Oft lebt er in einer anderen Welt, ist ein Walfänger, mit seinem Freund Queequeg auf der Jagd nach Moby-Dick, dem weißen Wal. Und erzählt den Kindern diese Geschichte, als wenn er sie selbst erlebt hätte. Versucht ihnen Angst zu machen. Und hat auch seinen Spaß daran, wenn sie doch mutiger sind als erwartet.

Richter nähert sich ihren Personen sehr sensibel, erzählt sachlich und doch auch poetisch von Alzheimer, von Tante Pollys Angst um ihren Mann, von Onkel Fietes Schwächeanfall. Geschickt verwebt sie die Fantasien der Kinder in ihrem Baumhausschiff mit den Fantasien des Alten und der Weltliteratur und schildert die gegenseitige Annäherung unaufdringlich. Am Ende sind es doch die besten Ferien der Welt geworden, nicht nur für Ole und Katharina, sondern auch für Onkel Fiete. Und wenn man dann noch den norddeutschen Singsang im Ohr hat, der ab und zu durchscheint, dann will man gleich selber hinfahren.

Titelbild

Jutta Richter: Das Schiff im Baum. Ein Sommerabenteuer.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
120 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783446240186

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