Von oben ein Löffelchen Schwefelblüte

Ernst Augustin zum 85. Geburtstag

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Jedesmal, wenn ich Ernst Augustin in München besuche, also etwa einmal im Jahr, erkundigt er sich eingehend nach mir. Und jedesmal bekundet er, dass er gar nichts von mir wisse, weil ich so gar nichts von mir preisgebe.

Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Jedesmal, wenn ich Ernst Augustin begegne, sind alle meine Sinne auf Empfang gestellt, und es gibt gar keinen Anlass, von mir zu reden, wenn Augustin spricht. Denn er sagt, auch in der ganz gewöhnlichen Unterhaltung, so zauberhafte Dinge, dass ich ganz einfach zuhören muss.

Immer, wenn er mich anruft, also etwa dreimal im Jahr, bin ich fieberhaft auf der Suche nach einem Kugelschreiber, um festzuhalten, was er sagt. Doch leider kann ich kein Steno, und der Stift schreibt nicht, und so geht Vieles von dem, was er sagt, verloren. Und es sind goldene Worte, die mir da verloren gehen, wahre Schönheiten, blitzende, glitzernde Diamanten seiner Formulierungskunst. Es sind große Wahrheiten unserer menschlichen Existenz, die er da quasi en passant von sich gibt.

Vor über dreißig Jahren erzählte mir ein Journalist etwas sehr Eindrucksvolles. Er wurde gelegentlich nachts von dem kanadischen Pianisten Glenn Gould angerufen und so ein Gespräch, so ein „Monolog“ mochte über eine Stunde dauern. Und es müssen absolut aufwühlende, großartige Monologe gewesen sein, die Glenn Gould da in die Sprech- beziehungsweise Ohrmuschel hineingab – jeder, der ihn einmal sprechen hörte und sah, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie klug, wie ereignishaft, wie lebendig, ja, wie witzig dieser Gould gesprochen hat.

So ungefähr ist Augustin. Es sind meist kleine Anlässe, die einen Anruf auslösen – ein Roman ist rezensiert worden, Augustin fühlt sich missverstanden, und ich soll ihm nun bitteschön erklären, was er da eigentlich geschrieben hat. Aber dazu kommt es dann gar nicht, denn er weiß es ja selbst, und urplötzlich und unmerklich ist man tief drin in dieser Augustin-Welt, in dieser Schönheit, Wahrheit, Einzigartigkeit, die durch nichts und niemanden irritiert werden kann.

Diese Welt ist ein Schlaraffenland, ein Musenhof, ein Butterfass, ein köstlicher Liqueur, an dem man sich berauschen soll. Da wird laufend Honig aus den Waben geklopft, Rahm abgeschöpft und jubiliert – „eine kleine Herzstärkung“ macht unseren Sänger frei und gelöst, der Natur an den Busen zu fassen, damit er ihr, zwei großen, weißen Lämmchen gleich, aus der Bluse hüpfe.

Es geht sinnlich zu in seiner Welt, die zugleich gedankenvoll ist – so groß der Spaß ist, den seine Leser von ihm haben (sein kleines Hörbuch „Goldene Zeiten“ von 2007 gibt uns ein Beispiel: Je tragischer die Geschichte, desto größer das Gelächter), so ernst und so existenziell ist alles, was da verhandelt wird.

Ist es von Nachteil oder von Vorteil, dieser Welt zu begegnen? Von Nachteil, denn unsereins ist für alles andere sofort verdorben. Liest man dann Goethes „Werther“, ein Buch, sicher nicht ohne Verdienste, so denkt man sofort: Was hätte Augustin daraus gemacht! Denn dieser salzlosen Prosa fehlt einfach die Komik, geben wir es doch zu! Oder „Moby-Dick“, ein dickes, ein wichtiges, ein gewichtiges Buch, zugegeben. Aber der große Bogen, der Augustins Bücher ausmacht – von der Löwenjagd bis – dreihundert Seiten später – zur Wiederbegegnung Mahmuds mit seinem Mütterchen, der Frau mit dem offenen Rachen: Derlei hat Melville einfach nicht zu bieten. Oder nehmen wir „Das Bildnis des Dorian Gray“. „Ein Buch der absoluten Schlechtigkeit“, wie Augustin sagt, „sowie der Schönheit, die in sich ruht. Der Mensch wird Zyniker und gefällt sich als Böser Bube.“ Leider übertreibt es Oscar Wilde damit…

Man merkt, es wird einsam auf dem Olymp, wenn man Literatur am Augustin’schen Œuvre bemisst. Natürlich: „Die Buddenbrooks“ bleiben, „Busse wandert aus“ bleibt, Hugh Walpoles „Bildnis eines rothaarigen Mannes“ und, meinetwegen, Flauberts „Salambo“ bleiben. Das ist wenig genug. Und halt, ich vergaß, wir haben die spätere Version des „Robinson Crusoe“, das „Blaue Haus“, das sich dieser Tage so viele Freunde gewann. Auch Daniel Defoe wird also bleiben, Augustins kongenialer Neuschöpfung wegen.

Insofern ist es ein Nachteil, sein Werk zu kennen. Aber auch ein Vorteil, ist uns solchermaßen doch endlich ein Maßstab an die Hand gegeben, eine Richtschnur für das Absolute. Dieses Absolute ist in den vergangenen Jahren allein schon dadurch sichtbar worden, dass dieser geniale Könner dazu überging, seine eigenen Bücher zu bearbeiten. Angeblich, um sie zu verbessern – was ja nicht möglich ist, wie wir alle wissen: Das Perfekte, das schlechthin Schöne, das Zauberhafte und im wahrsten Sinne Poetische kann nicht verbessert werden. Gleichwohl sind wir froh, dass es nun neben dem „Badehaus“ auch das „Badehaus Zwei“ gibt und neben „Mamma“ das „Schöne Abendland“. Jetzt müssen nur noch alle anderen Bücher lieferbar gehalten werden: „Der Kopf“, „Das Badehaus“ in der Erstfassung, der Roman „Gutes Geld“.

Wichtiger aber, das vor allem, ist natürlich der nächste eigene Roman, „Das Monster von Neuhausen“, eine Abrechnung, zugleich ein Buch voller Üppigkeits-Einfälle. Aber das dauert noch, bis wir ihn lesen können, denn, wie man sich denken kann, steckt hinter jedem seiner Bücher ein reiches Leben, ein gelebtes Leben, das schon ungewöhnlich reich war, als unser Autor seinen ersten Roman vorlegte, „Der Kopf“ (1962).

Das war ja noch Nachkriegszeit, damals, und die Augustins „waren süchtig nach Leben“: Oft im Tanzcafé in Warnemünde (beinahe öfter als in der Vorlesung), aber als angehender Arzt hatte Augustin in der DDR ja einen Sonderstatus, denn Ärzte waren gesucht und wurden gebraucht. Und weil Augustin Anfang der 1950er-Jahre in Rostock Medizin studierte, öffnete sich diese Stadt, sie wurde viel weltläufiger, alles wurde luftiger. Man hat auch gleich ganz anders gebaut, damals, großzügig eben, art-deco-haft. Man spürt es noch heute: Augustin was here. Sein Geist ist dort noch immer erfahrbar – eine Zeit, über die wir wenig wissen, obgleich dann und wann Reminiszenzen an die DDR im Werk aufblitzen.

Wie reich dieses Leben war (und noch ist), davon bekommt man eine Ahnung, wenn man sein Zuhause kennenlernt, das er sich, zusammen mit der Malerin Inge Kalanke, geschaffen hat. Das ist kein Zuhause im landläufigen Sinn, das ist eine atemberaubende Erlebniswelt, jüngst war sie zu sehen in einem Fernsehbeitrag von Wolfgang Herles. Von diesem Zuhause, unter wechselnden Adressen (der Wilderich-Langstraße etwa, unweit der Ruffini-/Ecke Waisenhausstraße, der Gudrunstraße), wird oft erzählt, es ist schwer zu finden, man kann es nur betreten, wenn man schon einmal dort war, es ist für gewöhnliche Sterbliche nahezu unsichtbar, und auch die Frau des Hauses trägt wechselnde Namen – vielleicht ist sie, die Queenie, jener „Kerrie“ ähnlich, von der „Eastend“ so eindrucksvoll erzählt.

Dort, im Eastend, geht es um einen gescheiterten Schriftsteller (der hat also mit Augustin gar nichts gemein), der den verzweifelten Versuch macht, in die DDR zurückzukehren, in ein „Land ohne Freude“, wie Hans Magnus Enzensberger es genannt hat, in das „Land der beleidigten Kellner“, wie Almund Grau es nennt, Augustins Schriftsteller-Protagonist.

Aus der DDR war er einst geflohen, die Ausweispapiere waren vielleicht absichtsvoll verlorengegangen, man konnte eigentlich „nie wieder zurückkehren“, nun sitzt dieser fabelhafte, farbige Almund Grau im Zug nach Schwerin – wir schreiben ungefähr das Jahr 1980 – und fährt in das Land der lebenden Toten. Nach dem Grenzübergang hinter Hamburg geht es Richtung Schwanheide, Richtung fahle, ungestrichene, fremdländische Wirklichkeit, der Bockwurst in Boizenburg und der Jugendliebe Uta von Girsewald entgegen. „Der Bahnhof war noch derselbe und nicht gestrichen“ und im ersten Wagen der Straßenbahn sitzt noch immer „ein rothaariges Mädchen, die Uta von Girsewald“. Sitzt dort einsam, und bleibt auch einsam, denn für Kerrie oder Queenie, die zum Tier werden kann, wenn sie Almunds Kritiker in ihre Fänge bekommt, denn für Queenie gibt es keinen Ersatz und keine Alternative. Sie erst macht das Gesamtkunstwerk komplett, für das der Name Augustin steht, durch eine sehr eigenständige, gleichwohl aber das literarische Werk kongenial ergänzende Bilderwelt, die seit geraumer Zeit auch die Buchumschläge schmückt.

Sie, die Queenie, ist die Gefährlichere von beiden. Doch, doch, das meine ich ganz ernst. Wir können froh sein, dass wir hier noch so einträchtig sitzen dürfen. Wenn es um ihren Ernst geht, da kennt sie keinen Spaß. Schließlich hat sie ja auch viel aufgeben müssen, damit er Autor sein konnte. Was hätte er als Arzt verdienen können! Mit seinem Geschick und seinem Verständnis. Nein, da bleibt sie hart – da müssen dann eben die Verleger bluten und einen Vorschuss abschreiben oder als nicht gegeben in den Büchern führen. Dass die Verleger Schampus aus den Hirnschalen ihrer Autoren trinken – nicht mit ihr. Deshalb hat sie ihm Verleger gesucht, die eine Art Verständnis für ihren Ernst hatten oder haben, eine Neigung zu dieser seltsamen Blüte unserer Kunst- und Geisteswelt, die eins und doppelt ist. Das war zunächst Klaus Piper, der Mann mit Weste, Uhrenkette und goldenem Hirschzahn, noch ganz die alte Schule, weiß Gott; sodann Siegfried Unseld, der für „Gutes Geld“ eigens einen neuen Pressesprecher einstellte; und das ist, last but not least, Wolfgang Beck, der den Jaguarfahrer mit dem Fahrrad ablöste, sich vor allem für Augustins Frauenbild interessiert und in seinen Büchern Mut und Hoffnung schöpft. Allen war und ist klar, worauf sie sich eingelassen haben, auf ein großes verlegerisches Abenteuer, das sie aber – dereinst – unsterblich machen wird.

Ich will mir gar nichts herausnehmen, doch habe ich in den letzten zwanzig Jahren bestimmt an die 200 Augustin-Bücher verschenkt – es gibt ja kein größeres Geschenk, das man einem Leser machen kann. Davon sind bestimmt zehn als echte Augustin-Leser gewonnen geworden, kein schlechter Schnitt. Mein Tee-Onkel beispielsweise, der buchstäblich alles vom Autor gelesen hat, und alles mehrfach: „Weshalb kannte ich das vorher nicht?“, hat er mich gefragt. Sechzig verlorene Jahre gingen ins Land, ehe er – für seine letzten zwanzig Jahre – das Vergnügen dieser hohen Wortkunst erleben durfte. Ja, erleben! Oder Luise M., sie wird im Dezember 87, liest – auf meine Veranlassung hin – seit einem Jahr Augustins Romane –, und sie ist einfach nur selig und dankbar für diese Bereicherung ihrer späten Lebenszeit. Ich bin mir ganz sicher, lieber Augustin, ich bin sogar felsenfest überzeugt davon, dass Ihre Bücher lebensverlängernd sind.

Augustins Bücher nicht zu kennen, führt logisch zur Verkürzung des irdischen Daseins, auch zur Verkümmerung des Lebens, zur Tristesse. Hier wäre „ein Löffelchen Schwefelblüte“ angebracht, von oben einzuflößen. Im Buchhandel haben, wie ich vom Autor erfuhr, der Verlag C. H. Beck und seine Mitarbeiter, vom Lektor über die Hersteller, der Werbung und Presse bis hin zur Verlagsspitze, Großartiges ausgelöst, um dieses herrliche Buch, „Robinsons Blaues Haus“, ins Gespräch und an den Leser zu bringen. Auch davor verneigen wir uns. Jedoch: Das Buchhändlersterben können auch Sie (sie) nicht verhindern, wie mein Beispiel gezeigt hat, schon gar nicht in der untergegangenen DDR, in Rostock und Schwerin, wo er gelebt hat, wo er am Strand von Warnemünde fürs Medizinstudium büffelte und mit dem Zirkus übers Land fuhr.

Gewiss, der Verlag könnte mehr tun – beispielsweise den gesamten Werbeetat auf Augustin konzentrieren, dies nur als Anregung. Und er könnte Augustin bitten, unsere Klassiker durchzusehen und ihnen den notwendigen Schliff zu geben. Ich sage nur Kafka, seit einigen Jahren gemeinfrei.

Was Bach für die Tonkunst bedeutet – Glenn Gould hat es uns demonstriert: Anfang und Ende aller Musik –, das ist uns Ernst Augustin für die Dichtkunst, und es bedeutet gar nichts, dass der eine oder andere Literaturpreis bislang an ihm vorübergegangen ist, denn für sein Werk bedarf es eines Gehörs, eines Spürsinnes, einer Sensibilität, einer Antenne, die seltene Vermögen darstellen. Es genügt zu wissen, dass dieses Werk bedeutende Verleger, Leser (auch Lektoren) und Kollegen als Fürsprecher gewonnen hat, und auch die Literaturwissenschaft, meine Disziplin also, wird ihn noch entdecken, da bin ich mir ganz sicher. Dass sie dazu etwas länger benötigt, liegt einfach daran, dass Augustin sich nicht aufdrängt – für ihn ist die Arbeit am Manuskript die eigentliche Aufgabe, nicht deren Verbreitung.

Ich bin jetzt, was ich befürchtet habe, prosaisch geworden, ich sollte den Mund halten, wo die Poesie zugegen ist – und das tue ich ja gewöhnlich auch, zum beiderseitigen Nutzen.

Anmerkung der Redaktion: Festvortrag, gehalten am Mittwoch, dem 31. Oktober 2012, um 20.30 Uhr im Münchener „Walter & Benjamin“.