Von der Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft

Das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie zum Nachschlagen und zum Schmökern

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem "Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie" liegt ein optimistisches Buch vor, denn es trägt einer universitären Studien-, Lehr- und Forschungssituation Rechnung, die - wie der Herausgeber selbst zugibt - nur zum Teil verwirklicht ist. Das verleiht dem Buch einen theorieavantgardistischen Flair.

Die Ausweitung des Gegenstandsbereiches von der Literatur zum globalen Rahmen der Kultur stellt das Selbstverständnis der 'klassischen' Philologie und deren Standards weitgehend in Frage. Wer skeptisch danach fragt, was sich denn konkret dahinter verbergen mag, wenn von einer aus der Philologie und Literaturwissenschaft hervorgegangenen Kulturwissenschaft die Rede ist, der kann zu diesem Lexikon greifen, das in einer Vielzahl von einschlägigen Artikeln Momente dieser Entwicklung schlaglichtartig beleuchtet.

Warum allerdings wurde auf den anderen die Literaturwissenschaft erweiternden Begriff der "Medienwissenschaft" verzichtet? Immerhin widmet das Lexikon dem vieldiskutierten Begriff der Medienkulturwissenschaft, der ein heißes Eisen ist, einen eigenen Artikel. Er stammt sogar von einem der prominentesten Theoretiker auf diesem Felde, von S. J. Schmidt. Mit diesem Begriff im Titel hätte das Lexikon vielleicht den Medienbereich, der zwar in einer ansehnlichen Reihe von Artikel sowohl zu einschlägigen Themen wie auch zu namhaften Medientheoretikern präsent ist, noch deutlicher konturiert.

Hatte schon die zweite Auflage des "Metzler Lexikons Literaturwissenschaft" von 1984 eine theoretische Kosmetik bzw. Aufrüstung erfahren, so ist diese Schwergewichtsverlagerung mit dem zusätzlichen Lexikon zum Programm geworden. Es gibt zwar auch noch die Artikel zu einer herkömmlichen Interpretationspraxis, doch nur insoweit, als sie auch für die moderne und gegenwärtige Theoriediskussion interessant sind, z.B. im Rahmen der Erzähltheorie, und unter dementsprechend veränderten Darstellungsprämissen. Das durchgängige Schwergewicht liegt aber auf der Theoriediskussion selbst. Und da ist es nur zu begrüßen, daß das Lexikon auch personenbezogene Artikel mit aufgenommen hat, in denen sich mit bekannten Namen ganze Theoriegebäude verbinden lassen (z.B. Niklas Luhmann).

Was und wer Rang und Namen hat, ist versammelt: Neben der allgemeineren Literatur,- Kultur- oder auch Medientheorie finden sich hier all jene Theorieansätze, die auch zu relevanten methodischen Positionen in avancierter literaturwissenschaftlicher Diskussion geworden sind: Strukturalismus und Poststrukturalismus, Dekonstruktion, dekonstruktivistischer Feminismus, Gender Studies, Diskursanalyse, Psychoanalyse, New Historicism, Gesellschaftstheorie, Konstruktivismus, Systemtheorie. Nennt man auch die Namen Saussure, Derrida, Lacan, Foucault, Bourdieu oder - wie gesagt - Luhmann, so ist das nur ein Ausschnitt aus der weit umfangreicheren Prominentenliste in diesem Lexikon. Ihr ist eine Vielzahl von Personen dazugesellt, die - wenn auch vielleicht nicht auf den ersten Blick im Rampenlicht stehend - maßgeblich an der Theoriediskussion beteiligt sind oder waren.

Daß die historische Dimension sowohl der Gegenstände als auch des Faches (Fach- und Wissenschaftsgeschichte) auf jene Aspekte verkürzt wurde, die im Kontext gegenwärtiger Theoriediskussionen interessant sind, ist im Hinblick auf den begrenzten Raum legitim. Und auch, daß die Artikel selbst - es sind über 600 von 152 Beiträgern - allesamt zu kurz sind, kann man einem Lexikon nicht zum Vorwurf machen, das auf Einbändigkeit setzt. Es kann damit leichter Eingang in die Handapparate von Literaturwissenschaftlern finden, die nicht mehr nur Philologen sein wollen. In seiner Knappheit verdient das Lexikon weniger Vorwürfe als Komplimente. Ich habe eine Vielzahl von Artikeln überprüft. Die Beiträger, darunter wirklich namhafte Autoren, leisten in dem engen Rahmen, was möglich ist: Sie selegieren treffsicher die Eckdaten und geben Grundlageninformationen, die wohl fundiert sind; sie gewährleisten damit nicht nur einen überblickshaften Erstzugriff, sondern fassen Themenkomplexe auch für weiterführendes Arbeiten zusammen. Die Artikel sind - insgesamt gesehen - luzide, setzen aber einen Leser voraus, der schon eine Ahnung hat vom dem, worum es geht, und darüber schnell noch Genaueres wissen will.

Aber man kann dem Lexikon ein noch größeres Kompliment machen: Es eignet sich für Theorieinteressierte - ich habe es ausprobiert - wunderbar als Lesebuch. Es erlaubt einem, ein breites und hochaktuelles Spektrum der Theorieentwicklung als Panorama zu betrachten, und wer will, der kann dies 'Schmökern auf höchstem Niveau' nennen. Und noch etwas muß man dem Lexikon zusprechen. Es überblickt die Theorieentwicklung der letzten Jahrzehnte und Jahre; und es kann einen Impuls für weitere Theorieentwicklungen geben, weil es Studierenden den oft schweren Zugang zur Theorie erleichtert und so künftige Theoretiker rekrutieren hilft. Dies bleibt zu wünschen!

Titelbild

Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 1998.
593 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3476015246

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