Eine Abrechnung

Sabine Bergks Novelle „Gilsbrod“ spielt im Opernmilieu

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sabine Bergks Text beginnt – ganz novellenhaft – mit einer unerhörten Begebenheit. Schauplatz ist eine Opernaufführung mit „der Gilsbrod“, einer launischen Operndiva, an einer mittelgroßen Stadttheaterbühne. Mitten in einer ihrer Arien geschieht, was nicht passieren darf: Sie vergisst eine Zeile, singt „non sara“ anstelle von „non so d’amarti“. Das wäre, für sich genommen, kaum ein „novellenträchtiger“ Vorfall. Das Unerhörte, aus dem heraus sich dann eine lesenswerte, zum Teil dramatische Handlung entwickelt, ist die Weigerung der Souffleuse, der Sängerin den richtigen Satz zuzuflüstern. In der einen Sekunde, in der die Gilsbrod ihren Aussetzer hat, entscheidet sich das Schicksal von Sängerin und Souffleuse und darüber hinaus auch das des gesamten Theaters und des Publikums.

Die Sängerin muss, da sie die richtigen Worte nicht parat hat, singend auf dem Ton „A“ bleiben und beginnt, aus Verlegenheit, eine ihrer berühmt-berüchtigten Koloraturen, die sie immer weiter in die Höhe schraubt. Diese Koloratur endet in einer sprachlich grotesk inszenierten und absurd übersteigerten Szene in dem Moment, in dem die Gilsbrod – endlich – das viergestrichene C erreicht: „es ist ein ohrenbetäubender Schrei“. Er löst eine Explosion aus. Alles bricht am Ende der Novelle zusammen. In einem apokalyptischen Bild, das von der Sprachkraft der Autorin zeugt, singt Gilsbrod alles, Theaterbau wie Orchester und Publikum, förmlich ,nieder‘. Mit ihrem hohen Ton sprengt sie den Kronleuchter von der Decke und das Theater auseinander. Zurück bleibt, als Bild, ein Trümmerhaufen: Die eintretende Stille ergreift den Theaterraum und erstickt den ,markerschütternden‘ Koloraturgesang der Operndiva und den unaufhörlichen Wortschwall der Souffleuse.

Dieser Wortschwall ist das Bemerkenswerte des Textes: ein wirkliches Leseerlebnis. Es ist, als öffneten sich Herz und Kopf der Souffleuse in der einen Sekunde, in der sie der Sängerin den Text verweigert. Sie lässt ihren Gedanken und Gefühlen, die viele Jahrzehnte zurückgehalten wurden, wie in einem Sprachrausch freien Lauf. Punktlos über einhundertdreißig Seiten, nur durch Kommas in Sinn- und Sprecheinheiten geteilt, breitet sich der Worterguss wie ein großer Bewusstseinsstrom und unendlicher innerer Monolog, in denen sich Erinnerungen an das frühere Leben und Gedanken über die Gegenwart und die Zukunft wie Versatzstücke ineinander und übereinander schieben, vor dem Leser aus, packt und ergreift ihn. Der Wortschwall enthält Komisches und Skurril-Fantastisches, aber auch Verbitterung, Enttäuschung und nicht erfüllte Erwartungen und Hoffnungen. Wirklichkeit und Erträumtes und Vorgestelltes werden immer unentwirrbarer. Das geht so weit, dass die Souffleuse schließlich glaubt, die Gilsbrod zu sein.

Auch am Ende wird der Text nicht durch einen Punkt abgeschlossen. Die letzten Worte werden ohne Satzzeichen aneinandergereiht und suggerieren, dass die Erzählung der Souffleuse einfach weitergehen könnte. Sie erinnert sich an frühere Zeiten, die Kindheit und Schulzeit, an ihre Mutter, die vor ihr am Theater als Souffleuse arbeitete. Sie legt, so scheint es, Rechenschaft ab über ihr vergangenes und jetziges Leben, sprunghaft in der Darstellungsweise, assoziativ, ausschweifend. Realistische und bizarr-surreale Schilderungen stehen übergangslos nebeneinander. Die Sprache erscheint ungebändigt, spontan, emotional aufgeladen. Die vielen Wiederholungen erst, machen den Text übersichtlich und ,lesbar‘, geben ihm ein Fundament und eine Struktur, auch einen Rhythmus aus ,langsameren‘ und ,schnelleren‘ Sprech-Passagen.

Non so d’amarti – „Ich weiß nicht, dass ich dich liebe“ – sind die letzten Worte der Novelle. Im Text werden sie an vielen Stellen wiederholt und stehen wie ein Motto über der Handlung. Sie lösen den ,Kampf‘ zwischen Souffleuse und Sängerin aus und in ihnen verdichten sich die Desillusionierung, die Einsamkeit und die Entfremdungssituation der Souffleuse. Denn die Operndiva hat dafür gesorgt, dass die Souffleuse aus ihrem ,goldbarocken‘ Souffleurkasten von der Mitte der Bühne irgendwo an den hinteren Rand verdrängt wurde. Der Kasten wurde, weil er „der Gilsbrod“ nicht mehr gefiel und im Wege stand, abgeschafft und auf dem Dachboden des Theaters abgestellt. Die Verbannung aus dem Kasten in eine dunkle Souffleurecke stellt eine schmerzhafte und erniedrigende Erfahrung für die Souffleuse dar, die ihr schonungslos ihre Bedeutungslosigkeit am Theater bewusst macht. Mit der Abschaffung des Souffleurkastens wurde aber viel mehr als nur der Arbeitsplatz der Souffleuse beschnitten. Sie verliert vor allem ihren Schutzraum, der ihr immer über ihre Außenseiterrolle hinweggeholfen und ihr das Gefühl von Sicherheit gegeben hatte. Von der Muschel aus hat sie sich aus ihrem tristen, engen Alltag weg in eine Welt aus schönen Tönen geträumt. Das Rauschen innerhalb der Muschel vermittelte ihr ein Glücksgefühl.

Die Verbannung in den hinteren dunklen Bühnenraum bedeutet für sie eine Erfahrung, die sie seelisch krank macht. „Und mir fällt wieder ein“, heißt es mehrmals im Text, „dass die anderen sagen, ich sei krank, das sagen sie ja seit längerer Zeit, dass ich krank bin“. Die Frustrationen eines „kleinen Lebens“ kulminieren in diesem Wörtchen „krank“ und machen die Gilsbrod-Erzählung letztlich zu einer tragisch-traurigen Theatergeschichte. Sabine Bergk gelingt es, den Wunsch nach Geborgenheit in der Souffliermuschel durch Erinnerungen an schlimme Kindheitssituationen verständlich zu machen. Immer wieder tauchen Bilder aus der Kindheit und Schulzeit auf, die zeigen, wie die Souffleuse wegen ihrer Träumereien von Lehrerinnen und Mitschülern gehänselt, als Außenseiterin behandelt und auch körperlich bestraft wurde.

Die Sprache wagt groteske, alles ins Monströse verzerrende Beschreibungen und Schilderungen, die die Gilsbrod als wahres Bühnenmonster darstellen und ihre Egozentrik und Prinzipienlosigkeit im Umgang mit den anderen Menschen im Theater entlarven. Wenn die Erzählerin wiederholt von den großen Gilsbrodzähnen, den Gilsbrodfüßen und den dicken Gilsbrodarmen redet oder davon, dass sich die Sängerin in ihren Unterleib eine Klarinette einnähen ließ, um so müheloser das ganz hohe C zu erreichen, dann legen diese abwertenden Sätze die unterschwellige Gegnerschaft zwischen den beiden Frauen bloß: auf der einen Seite eine völlige Nichtbeachtung der Souffleuse durch Gilsbrod, auf der anderen der Versuch der Souffleuse, ihre Würde und ihr Selbstwertgefühl gegenüber der Diva zu behaupten.

Darüber hinaus bestimmt noch ein weiteres Motiv den „Soufflier-Kampf“ zwischen den beiden ungleichen Frauen: Eifersucht der Souffleuse auf die große Operndiva. Es geht um eine vergebliche Liebesromanze mit dem Musiker Marlin. Die Souffleuse ist heimlich in ihn verliebt. Er aber hat nur Augen für Gilsbrod. „Marlin ist einfach immer an mir vorbeigelaufen, weil ich nur Souffleuse bin, und hat mich nicht angesehen“. Es ist eine Liebesgeschichte aus Enttäuschung und Erniedrigung. Dass die Souffleuse Gilsbrod nicht über den Aussetzer hinweghilft, ist ihre Art von Abrechnung: Rache für jahrzehntelange Missachtung durch die Diva und für die verpasste Liebe zu Marlin.

Bergks Novelle ist eine manchmal beißende Satire auf den Theater- und Opernbetrieb eines eher provinziellen, mittelmäßig ausgestatteten Theaters. „Doch inzwischen habe ich immer stärker das Gefühl, dass ich in der Sparkasse gelandet bin, denn sie haben bereits das Ballett eingespart und sparen an den Kulissen und sparen an den Musikern.“ Intendant, Dirigent und Sängerin werden als Karikaturen vorgeführt und in ihren klischeehaften Posen kritisiert und lächerlich gemacht. Es ist eine Welt des Scheins, die von außen betrachtet glitzert und vom Publikum heftig beklatscht wird, in Wirklichkeit aber brüchig ist und in vielem unwahr und verlogen. Der Souffleuse, die selbst Teil dieser falschen Glitzerwelt ist, gelingt es, sich wenigstens einmal, im entscheidenden Augenblick, dagegen aufzubäumen, als namenlose, unbedeutende Souffleuse Nein zu sagen und damit die Aberwitzigkeit des gesamten Betriebs bloßzustellen und ihn, in sprachlich grandiosen Bildern, zum Zusammensturz zu bringen.

Sabine Bergks Novelle ist eine scharfe Abrechnung mit der Hohlheit dieses Opernbetriebs. Indem sie ihre Kritik aus dem Inneren des Theaters heraus formuliert, kompromisslos, spannungsvoll und bilderreich, gelingt es ihr, seine Schwachstellen eindringlich und überzeugend offenzulegen. Dabei ist die Souffleuse als Erzählerin auch schonungslos sich selbst gegenüber. Mit dem Theater, das von der Koloratur der Gilsbrod ,niedergesungen‘ wird, geht sie selbst unter. Sie weiß, dass ihre Weigerung, der Operndiva den richtigen Satz zu soufflieren, die Entlassung nach sich ziehen wird. Aber die Erzählerin lacht nur darüber, mit geschlossenem Mund, unsichtbar für die anderen. Es ist ein irrsinniges, tragisch-komisches inneres Lachen, das den Text ebenfalls als Grundmotiv durchzieht.

„Gilsbrod“ ist Bergks erste längere Prosaveröffentlichung. Die Autorin, von der bereits Erzählungen und Gedichte erschienen sind, arbeitet vorwiegend als Regisseurin an verschiedenen deutschen und ausländischen Theatern. Man darf auf weitere Bücher von ihr – vielleicht ebenfalls zum Leben und Treiben auf und hinter den Bühnenbrettern? – gespannt sein.

Titelbild

Sabine Bergk: Gilsbrod. Novelle.
Dittrich Verlag, Berlin 2012.
130 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717845

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