Psychologische Gleichnisrede

Dieter Wellershoffs Roman "Der Liebeswunsch"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einst waren Marlene und Leonhard ein Paar. Dann trat Paul auf den Plan, und schon ergab sich eine neue Konstellation. Paul und Marlene zogen in ein geräumiges Haus und Leonhard war gelegentlich ihr Gast: ein Freund, der den Treuebruch verschmerzt zu haben schien. Schließlich trat Anja ins Leben der drei, heiratete Leonhard und alles schien aufs beste eingerichtet. Dann glaubten Paul und Anja einander anzugehören; sie wechselten entschiedene Küsse und konnten sich nur gewaltsam und schmerzlich trennen. Marlene und Leonhard reichten die Scheidung ein, Anja verfiel dem Alkohol und brachte sich um, Pauls Dasein als Mann wurde unerträglich.

Glaubte man noch vor 200 Jahren, in Liebesverhältnissen eine "höhere Hand" spüren zu können und das Fliehen und Suchen, Fahrenlassen und Ergreifen "symbolisch" auffassen zu dürfen, so traut man heute dem Subjekt Einsicht in sein Handeln zu und hält das Kunstwort `Psychologie´ für vollkommen gerechtfertigt. Dieter Wellershoff, geboren 1925, ein Grandseigneur der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, dessen primäres Werk über vierzig Titel umfaßt, Romane und Erzählbände, Theaterstücke und Drehbücher, Reiseprosa und Hörspiele, Essay- und Gedichtbände, gilt zurecht als Meister des psychologischen Realismus. Dieser Realismus ist Teil eines umfassenderen Konzeptes, einer normalistischen Anthropologie, die gezielt aus ihren Abweichungen erklärt und abgeleitet wird.

"Der Liebeswunsch", der sechste Roman des Autors, ist geschickt gebaut. Aus der Retrospektive erzählt, folgt er abwechselnd den vier Erzählerfiguren Anja, Leonhard, Marlene und Paul. Zu Beginn des Romans ist Anja bereits tot, ihr Selbstmord wird von einem Augenzeugen wie folgt beschrieben: "Eine Frau saß dort mit dem Rücken zum Abgrund auf dem Geländer einer Loggia, vollkommen unbekümmert, wie er zu denken versuchte, leichtsinnig jedenfalls oder durch irgendetwas gesichert, was er aus der Entfernung nicht erkennen konnte. Er wollte es nicht wissen, eigentlich gar nicht wahrhaben. Da sah er, daß die Frau das Geländer losließ, beide Arme über den Kopf nach hinten riß und sich mehrfach überschlagend in die Tiefe stürzte."

Das Ende steht also am Anfang schon fest und gibt dem Roman die Perspektive vor. Alles weitere ist Motiv- und Spurensuche, Erinnerung und Rekonstruktion. Vier Erzähler kommen zu Wort, und es ist recht eindrucksvoll zu sehen, wie Wellershoff es versteht, die inneren Beweggründe seiner Figuren so darzustellen, daß sie fast lehrbuchhaft plausibel erscheinen. Wie ein Kriminalist erarbeitet er sich umfassende "Täter"-Profile. So wird Leonhard Veith, Vorsitzender Richter am Landgericht, als Person konzipiert, die im Berufsleben Erfolg hat, doch im privaten Raum versagt und als ewiger Verlierer dasteht. Seine Frau Anja personifiziert die innerlich leere, halt- und ziellose Hysterikerin, die unter allen Umständen scheitern muß. Marlene verkörpert den Typus der rational handelnden, dominanten Frau, die alle wesentlichen Entscheidungen für ihr Leben selber trifft und noch in schwierigsten Situationen soziale Kompetenz beweist. Paul schließlich, der notorische Fremdgänger, lebt nach dem Motto "Gelegenheit macht Verhältnisse"; er ist nie zufrieden mit dem Status quo und setzt seine Ehe und seine Freundschaften wiederholt aufs Spiel.

Wellershoffs psychologischer Realismus möchte das Verhalten der Figuren bis in die kleinsten Regungen hinein erklären; er tut dies überzeugend, aber manches könnte auch ungesagt bleiben und wäre doch sonnenklar. Etwas nur anzudeuten, in der Schwebe zu halten, dem Rezipienten für die lesende Vollendung zu überlassen, ist Wellershoffs Sache nicht. Ähnlich wie der große Heinrich Mann neigt er dazu, zuviel zu erklären und es gelegentlich auch mit ungeeigneten sprachlichen Mitteln zu tun. Ein Beispiel ist die Erzählerrede zu Beginn des 10. Kapitels. Leonhard Veith, heißt es da, "war außerhalb seines Amtes ein Mensch ohne Menschenkenntnis. Sein Gefühl, man könnte auch sagen, das System seines unbewußten Denkens, ließ ihn die katastrophalen Lebensgeschichten [...] als eine Welt für sich sehen." Störend ist hier der unelegante, weil zu starke Übergang in eine Redeform ("das System seines unbewußten Denkens"), die abstraktes Wortgeklingel bleibt, im Grunde nichts erklärt und zum Persönlichkeitsbild Leonhards nichts beiträgt. Unnötig ist auch die Wahl einer anonymen Erzählinstanz an dieser Stelle, für die es keine Notwendigkeit gibt in einer Prosa, die abwechselnd auf ihre vier Protagonisten fokussiert.

Der ästhetische Bruch, der hier vorliegt, ist Spurenelement eines hochreflektierten Autors, dem es bisweilen nicht gelingt, hinter sein theoretisches Wissen zurückzugehen. Wellershoff scheint sich hier, für einen Augenblick nur, eines wissenschaftlichen Diskurses bedienen zu wollen, der quasi `über´ dem Niveau der sonst angewählten Rollenprosa liegt. Das falsche Register ziehen auch die Epistel von Anja an Paul, doch liegen sie ästhetisch klar `unterhalb´ des sonstigen Niveaus: Anjas Briefprosa erinnert an den Kitsch der "Neuen Innerlichkeit" der siebziger Jahre und passt nicht zum ansonsten schlüssig und überzeugend entwickelten Personenkonzept der Selbstmörderin.

Es sind Beckmessereien, die den positiven Gesamteindruck kaum trüben können. Insgesamt liegt hier eine beredte Charade vor, die in sehr konzentrierter Form das stumme Spiel der Gedanken und Empfindungen zum Klingen bringt; oder, um es mit einem der Alten zu sagen: eine psychologische Gleichnisrede, diskret und unterhaltend, "woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen".

Titelbild

Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000.
400 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3462029398

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