Limonow, Russland und ich

Emmanuel Carrère macht den russischen Bürgerschrecks Eduard Limonow zum Helden einer Romanbiografie

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieses Buch hat drei Themen: Eduard Limonow, Russland und Emmanuel Carrère. Zwar handelt die Romanbiografie „Limonow“ vordergründig und vorwiegend von Eduard Limonow selbst, Autor, Politiker, vor allem aber Skandalfigur des öffentlichen Lebens in Russland. Doch der Verfasser dieser Lebensgeschichte, der französische Schriftsteller und Drehbuchautor Emmanuel Carrère, nimmt in seinem Buch auch mehrere Jahrzehnte sowjetischer und russischer Geschichte in den Blick. Dabei reflektiert er quasi nebenbei die französische Sicht auf Russland, wobei er durchaus nicht immer in den jeweils gerade herrschenden Tenor der allgemeinen öffentlichen Meinung einstimmen mag. Schließlich, und dies nicht zuletzt, erzählt der Intellektuelle Carrère aber auch von sich selbst, was ganz besonders in seiner Haltung zum Menschen Limonow zum Ausdruck kommt, die stets zwischen Faszination und Abneigung oszilliert. Dass Carrère dabei über seinen „Romanhelden“ kein abschließendes Urteil fällt – es wohl auch gar nicht vermöchte –, macht zu einem beträchtlichen Teil den Reiz seines Buches aus. So bleibt die zwielichtige Figur Eduard Limonow auch für den Leser bis zum Schluss ambivalent: Sie schlägt ebenso in seinen Bann, wie sie auch verstört und abstößt.

Eduard Limonow wird durch die Begriffe Politiker und Schriftsteller in seiner Komplexität nur unzureichend erfasst. In jüngster Zeit wird er zwar vorwiegend über seine politischen Aktivitäten wahrgenommen: Bereits 1993 gründete er die berüchtigte Nationalbolschewistische Partei Russlands, später schmiedete er unter anderem gemeinsam mit dem bekannten Schachspieler Garri Kasparow das Oppositionsbündnis „Drugaja Rossija“ (Das Andere Russland), bis er die Allianz 2010 in eine nicht offiziell registrierte Partei gleichen Namens umwandelte. Im öffentlichen Bewusstsein war und ist Limonow auch mit seiner „Strategie-31“ präsent: Mit Straßenprotesten erinnern er, seine Anhänger, aber auch ihm politisch fern Stehende jeweils am 31. eines Monats gemeinsam an den Paragrafen 31 der russischen Verfassung, worin das Versammlungs- und Demonstrationsrecht garantiert wird. Limonow saß seit 2001 auch einige Jahre in Untersuchungs- und Lagerhaft – man warf ihm unter anderem illegalen Waffenbesitz und die Teilnahme an einem versuchten Staatsstreich in Kasachstan vor.

Bereits in früheren Jahren hatte Limonow jedoch ein vielgestaltiges und abenteuerliches Leben geführt, was sich schon an den geografischen Stationen ablesen lässt, von seiner Kindheit im sowjetischen Charkow der Nachkriegszeit über das Exil in den USA und in Frankreich und schließlich 1991 die Rückkehr nach Russland. Auch an den zahlreichen Berufen und Tätigkeiten, die er ausübte, wird dies deutlich: Gießer in einer Fabrik, Avantgarde-Dichter mit Dandy-Allüren im sowjetischen Untergrund, Gelegenheitsdieb und Schneider, der sich mit der Produktion modischer Hosen über Wasser hielt, später in den USA Journalist, Schriftsteller („Fuck off, Amerika“), Butler, schließlich Soldat in Vukovar, Sarajewo und der Krajina zur Zeit der jugoslawischen Bürgerkriege, wo er als Kämpfer für die serbische Sache vielleicht auch getötet hat.

Limonow ist gewiss eine irrlichternde und umstrittene Figur, zu deren Merkmalen ein aufrührerisches Wesen, Unverfrorenheit und Starallüren gehören, aber auch politischer Instinkt und schriftstellerisches Talent – auch als aufrichtig liebender Mann tritt Limonow uns in Carrères Darstellung entgegen. Immer wieder hat Limonow durch seine Aussagen und Parteinahmen für Irritationen gesorgt – so sang er etwa Loblieder auf Stalin und Karadžić, er fiel mit faschistischen Parolen auf und träumte öffentlich von einem gewaltsamen Aufstand in Russland. Limonows Leben allein gäbe also bereits genug Stoff für ein Buch her. Letztlich unbeantwortet bleibt in Carrères Buch die Frage, welche Motive Limonow in seinem Tun denn eigentlich antreiben. Carrère selbst kann hier nur mutmaßen: Vielleicht ging es Limonow um Reichtum und Berühmtheit, vielleicht strebte er nach einem Heldendasein?

Emmanuel Carrère hat Limonow Anfang der 1980er-Jahre kennengelernt, als dieser aus den USA nach Paris gezogen war. Wie Carrère sogleich unverhohlen eingesteht, haben die jungen französischen Bürgerlichen, zu denen er sich selbst rechnete, Limonow damals geradezu verehrt, und zwar auch – oder vielleicht gerade – den Gauner und Barbar in ihm. Später hat sich Carrères Haltung zu Limonow allerdings gewandelt und vor allem ausdifferenziert: Zwar bewundert Carrère auch weiterhin Limonows phänomenales Gedächtnis, seinen Witz, die beeindruckende Selbstkontrolle und die Beharrlichkeit im Hinblick auf seine Ziele.

Doch empfindet er jetzt auch Abneigung etwa gegenüber Limonows politischen Positionen, seinem Soldatentum, der Teilnahme am russischen Staatsstreich von 1993 auf der „falschen“ Seite. Carrère kann und will Limonows divergierende Charaktereigenschaften nicht unter einen Hut bringen: „Limonow […] war ein Kleinkrimineller in der Ukraine, ein Idol des sowjetischen Undergrounds, Obdachloser, Kammerdiener eines Milliardärs in Manhattan, Starschriftsteller in Paris, ein Soldat, der sich in den Balkanraum verirrte, und jetzt, in diesem heillosen Chaos des Postkommunismus ist er der alte, charismatische Chef einer Partei von jugendlichen Desperados“, bilanziert Carrère das Leben des nunmehr fast Siebzigjährigen. Gerade Carrères Schwanken zwischen Bewunderung und Abneigung angesichts der Widersprüche in Limonows Person aber wirkt authentisch und macht das Buch sowohl glaubwürdig wie auch lebendig.

Carrère selbst verkörpert das, was man in Frankreich einen „bobo“ nennt, einen „bourgeois bohème“. Er bezeichnet seine Heimat als ein Land, „das soziale Mobilität nur begrenzt zulässt“. An dieser Stelle könnte man durchaus spötteln: Carrère ist jemand aus großbürgerlichem Hause, der selbst gerne den Abstieg schaffen würde. Gerade deshalb muss eine Figur wie Limonow wie ein gewaltiges Faszinosum auf Carrère wirken. Man kann Carrère als Person daraus einen Strick drehen und ihm das als Charakterschwäche auslegen – aber für die Lektüre von „Limonow“ ist gerade dieses Moment ein Gewinn. In der Biografie eines schillernden russischen Intellektuellen spiegelt sich explizit und implizit immer auch wieder Carrères eigenes Selbstgefühl wider als jemand, der seine gesicherte, aber eben auch ein wenig allzu brave und langweile Herkunft gerne gegen etwas mehr Abenteuer samt einem Hauch von wohliger Verruchtheit tauschen würde. Das mag dem Autor selbst mehr oder weniger bewusst sein – es macht jedenfalls sein Buch noch um einiges lesenswerter.

In Carrères eigener Biografie findet sich denn auch die Verbindung zum dritten großen Thema des Buches. Die sowjetische und russische Geschichte der neuesten Zeit ist nämlich nicht allein deshalb Gegenstand dieses Buches, weil Limonows Leben mit all seinen Verwerfungen und Widersprüchen durch die sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten seines Heimatlandes maßgeblich mitgestaltet wurde. Limonows Geschichte, ja er als Person wäre ohne diesen Hintergrund, ohne den sowjetischen Totalitarismus und den späteren Zerfall des Imperiums beispielsweise, nicht denkbar. Carrère gelingt es dabei ganz ausgezeichnet, Eduard Limonow gerade in seinen widersprüchlichen Facetten auch als ein Produkt von unterschiedlichen Konstellationen, Kräften, Einflüssen und Prägungen hinzustellen. Doch dies ist noch nicht alles: Gleichzeitig schreibt Emmanuel Carrère – und er ist sich dessen sehr wohl bewusst – mit seinem Buch auch gegen seine berühmte Mutter an. Hélène Carrère d’Encausse ist als Historikerin eine führende und anerkannte Spezialistin für Russland und die Sowjetunion. Nun hat der Sohn mit einem eigenen Russlandbuch den Versuch unternommen, sich schreibend von ihr zu emanzipieren. Ob ihm das gelungen ist, wäre eine andere Frage – der Leser kann jedenfalls nicht ganz umhin, sich an dieser gewissen pikanten Note zu delektieren.

Emmanuel Carrère hatte zunächst lediglich einen längeren Artikel über Limonow ins Auge gefasst. Daraus ist schließlich ein ganzes Buch geworden, das er zwar als „Reportage“ bezeichnet, das man mit Fug und Recht aber auch eine Romanbiografie nennen könnte. Der Verfasser hat dafür eigens mit über dreißig Personen gesprochen, er hat Limonow eine Zeitlang begleitet, ihm zugehört – und ihm manchmal auch nur zugeschaut, wenn dieser es vorzog zu schweigen. Was Carrère nicht unter den Tisch kehrt: Viele Informationen entnimmt er direkt Limonows eigenen Werken. Darunter sind Chroniken und Erinnerungen, allerdings auch literarische Texte. Was die letzteren betrifft, so ist zu bemerken, dass Carrère der „biografischen“ Falle nicht immer entgeht – sprich: Er setzt den Helden in Limonows Werken allzu offensichtlich mit dem realen Limonow gleich und übersieht dabei die Möglichkeit einer gezielten Selbstinszenierung oder gar -stilisierung in Limonows Büchern.

Andererseits lässt sich vielleicht gerade hier auch ein möglicher Schlüssel zu den tieferen Beweggründen für Limonows Tun finden: Diese könnte man nämlich in dem Bestreben orten, sich selbst zu „literarisieren“, sich gezielt selbst zu einer Romanfigur zu machen. Zwar bezeichnet auch Carrère Limonows Leben als „romanhaft“, doch scheint er dabei etwas anderes im Blick zu haben: nämlich das Abenteuerliche und Spannende, nicht aber die Selbstliterarisierung durch Limonow. Wie dem auch sei – in gewissem Sinn hat Emmanuel Carrère Eduard Limonow letztlich dessen Wunsch dann doch erfüllt: Limonows Leben ist dank Carrère tatsächlich zu einem Roman geworden.

Titelbild

Emmanuel Carrère: Limonow. Romanbiographie.
Übersetzt aus dem Französichen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2012.
414 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783882219951

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch