Im Zauberberg

Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ in der ARD-Verfilmung

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Ein winterliches Elbpanorama, die langsam steigende Standseilbahn, Naheinstellung auf einen heimreisenden Schüler mit einer verhauenen Matheklausur (Note „vier“), die seine Mutter zuhause flugs vor seinem Vater versteckt, dem Oberarzt Dr. Richard Hoffmann (gespielt von Jan Josef Liefers), der als kostümierter Weihnachtsmann auftritt. Schon die ersten Einstellungen etablieren die Atmosphäre des Films „Der Turm“. Ort der Handlung ist eine etwas marode, aber noch funktionierende Bildungsbürgerwelt in Dresden, 1982 in der DDR. Mit der Zukunft kann nur ausreichend gerechnet werden, mit der Mutterliebe hingegen sehr gut. Der Vater führt ein Doppelleben. Und die Welt draußen ist kalt. Diese „Geschichte aus einem versunkenen Land“, die Uwe Tellkamps mehrfach, unter anderem mit dem Deutschen Buchpreis und dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, ausgezeichneter Roman „Der Turm“ (2008) dem Film vorgegeben hat, ist eine Geschichte von halbherzigem Widerstand und erzwungener Anpassung. Sie spielt im Klinik-, Familien-, Verlags-, Schul- und Militärmilieu. Das sind labile Sozialräume in einem Land, das ein Arbeiter- und Bauern-Staat sein wollte, aber eine Diktatur war, die Opfer forderte, gerade auch in der Elite.

Geschichte wird in dem Film großgeschrieben. Dafür haben Produzent Nico Hoffmann, Drehbuchautor Thomas Kircher und vor allem Regisseur Christian Schwochow gesorgt. Das komplexe Beziehungsnetz wird gestrafft, der wagnereske Prolog des Romans entfällt. Die epische Handlungsdramaturgie wird im Film auf die Familie der Hoffmanns konzentriert. Das hat seinen guten Sinn. Es wäre ungerecht, dem Film manche Abweichungen gegenüber dem Roman vorzuwerfen. Er ist ein eigenes Genre mit eigenen Erzählregeln. Und diese sind vor allem auf Richard Hoffmann und seinen Sohn Christian fokussiert.

Schwochows Film ist Geschichtsfernsehen im besten Sinne. Wer wissen will, wie tief die Diktatur in das Leben eingriff, der sieht eine Fülle von Beispielen, drastische wie die an Stanley Kubricks „Full Metal Jacket“ (1987) erinnernde Psychofolter eines NVA-Anfängers und sanfte wie das verhuschte Wegsehen von Hoffmann, der zu seiner Geliebten schleicht, der Sekretärin des Klinikchefs. Ein Höhepunkt ist erreicht, als sich am Ende des Films Richards unbotmäßiger Sohn Christian und die ebenfalls endlich emanzipierte Arztfrau Anne vor dem Dresdner Hauptbahnhof, den die Prager Botschaftsflüchtlinge passieren, unfreiwillig gegenüberstehen. Der eine auf der Seite des Militärs, die andere bei den Demonstranten. Die Diktatur hat die Familie auseinandergerissen. Auf Dauer trennen kann sie nichts. Familienbande bleiben erhalten (auch im doppelten Sinne des Wortes nach Karl Kraus).

Dabei kommt der Humor nicht zu kurz, und das ohne ostalgisches Schmunzeln. Am Anfang begeben sich Richard Hoffmann, sein Sohn und zwei Kollegen als Weihnachtsmänner verkleidet zu einer staatlich bewachten Schonung mit Tannen. Die besten Exemplare sind bereits mit Schildchen für einen Staatsdichter und für den SED-Bezirksfunktionär reserviert. Als die Ärzte die Axt anlegen, taucht plötzlich der Pfarrer mit einem Begleiter auf. Es siegt die Mehrheit. Die Klinik, nicht die Kirche bekommt den schönsten Weihnachtsbaum. Die Ansprache des Klinikchefs zum bevorstehenden Marxjahr wird durch einen vorgespielten Patientennotruf unterbrochen. Dr. Hoffmann ist der Ideologie noch einmal entkommen. Aber nicht mehr lange, und auch ihm wird sein Doppelleben und eine frühere Liaison mit der Stasi zum Verhängnis. Wie der Film diesen Verfall seiner Hauptfigur erzählt, ist höchst sehenswert. Und auch die gegenläufige Linie von Christian, der sich zum kritischen Beobachter entwickelt, verdient große Beachtung. Auf diesem Zauberberg ist kein Platz für Mitleid. Wohl aber für intellektuelle Lektionen und historisches Verständnis.

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