Von der Schwierigkeit Nähe zu fühlen und zu gewähren

Hanna Lemke erzählt in „Geschwisterkinder“ eine ironische Geschichte über Bindungsängste

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2010 hat Hanna Lemke ihr offizielles Debüt auf der Literaturbühne gegeben, mit dem Erzählband „Gesichertes“, einer Sammlung von Kurzgeschichten, die einen spezifischen Aspekt teilen: Gesichertes, wie der Titel verspricht, gibt es de facto nichts im Leben der Protagonisten. Wiewohl keine Teenager oder Twens mehr, sondern in Leben, Beruf und Alltag verankerte Erwachsene, ist ihr Dasein nach wie vor bestimmt von der Suche nach dem einen wahren, letztgültigen Lebensentwurf. Dabei erschöpft sich diese Suche oft in narzisstisch gefärbten Kreisbewegungen, einem Vortäuschen von Bewegung, das im Extremfall in uninspiriertes Sich-Treiben-Lassen abgleitet.

Eine vergleichbare Suchbewegung und Orientierungslosigkeit verbindet auch die Hauptfiguren in Lemkes neuestem Buch „Geschwisterkinder“. Ritschie und Milla, Bruder und Schwester, stehen im Zentrum der Erzählung. Sie sind beide auf ihre Weise einsam und bindungslos, wenn auch nicht bindungsunwillig, sondern nur glücklos in ihrer Suche nach Vertrautheit und Nähe. Ihre geschwisterliche Zuneigung ist echt, doch sie nährt sich zunehmend von bloßen Reminiszenzen an die Vergangenheit. Sie werden bei jedem Treffen hartnäckig bemüht, doch vor allem Milla erkennt, dass diese gemeinsame Geschichte langsam aber unaufhaltsam immer schaler und brüchiger wird, im Alltag verschleißt. Gegenmittel weiß sie vorerst freilich keines, zu aufwändig wäre es und zu viel an persönlichem Engagement würde es erfordern, sich dieser unangenehmen Entwicklung mit Entschlossenheit zu stellen.

So leben die beiden jeder für sich ein Leben voller Belanglosigkeiten, verstricken sich im Vorübergehen in Beziehungen, auf die sie sich gar nicht ernsthaft einlassen wollen, üben Berufe aus, die ihnen im Grunde nicht am Herzen liegen und vermitteln stets den Eindruck einer alles durchdringenden Ratlosigkeit. Keine depressiv gefärbte Melancholie und keine schmerzhafte Entfremdung erschwert ihnen das Leben, nur ein leises, allgegenwärtiges Unbehagen und eine träge Lustlosigkeit, geboren aus einem Vakuum an Sinn und Richtung.

Zwei unspektakuläre Ereignisse schaffen es aber schließlich, ihren ziellosen Rotationen ein Ende zu setzen: Der unangenehme, mit Peinlichkeiten und Unbeholfenheit durchwirkte Besuch eines alten Freundes der Familie und die überraschende Einladung zur Hochzeit eines flüchtig bekannten Pärchens. Beide Episoden öffnen den Geschwistern auf ihre Weise die Augen: Sie beginnen zu sehen, was in ihrem Leben so grundsätzlich falsch läuft, welche Entscheidungen sie treffen müssten, um dem eigenen psychischen und emotionalen Stillstand, in dem sie sich häuslich eingerichtet haben, zu entgehen. Mit großen seelischen Erschütterungen als Folge darf man indes nicht rechnen, derartiges widerspräche Lemkes nüchternem Erzählduktus. Vielmehr setzen die Geschehnisse sanfte, aber nachhaltige Erosionen in Gang, lassen verschüttet geglaubte Gefühlsebenen langsam wieder an die Oberfläche treten und erlauben für Ritschie und für Milla die vorsichtige Hoffnung auf neu aufkeimende Bindung und Nähe.

Stellenweise mag „Geschwisterkinder“, wie der eingangs genannte Erzählband „Gesichertes“, durch die distanzierte Haltung der Autorin durchaus reserviert, gar unterkühlt erscheinen. Andererseits erlaubt dieser bewusst gewählte Abstand einen wohltuend unverkrampften Zugang zu einer beunruhigend aktuellen menschlichen Unzulänglichkeit und macht den Leser empfänglich für deren pointierte literarische Betrachtung.

Titelbild

Hanna Lemke: Geschwisterkinder. Erzählung.
Verlag Antje Kunstmann, München 2012.
127 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-13: 9783888977497

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