Stalinistisches Legoland

Patrick McGuinness schreibt mit „Die Abschaffung des Zufalls“ einen beeindruckenden Bukarest-Roman

Von Oliver DietrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Dietrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist doch mal eine kreative Methode, seinen Protagonisten in eine Erzählung zu werfen: Einen Namen hat er nicht, auch keinen wirklichen Auftrag, alles was man weiß, ist, dass der englische Hauptdarsteller aus der Ich-Perspektive über eine Reise nach Bukarest im Jahre 1989 berichtet, um dort als studentische Hilfskraft eine Stelle anzutreten, für die er sich nie beworben hatte. Ja, das klingt alles ein wenig spinnert, fügt sich aber hervorragend in den nebulösen Duktus der ganzen Erzählung ein – er wurde genommen, teilt man dem Protagonisten mit, weil er gar nicht erst zum Vorstellungsgespräch erschienen sei.

Nein, in Bukarest herrscht um diese historische Epoche herum alles andere als die korrekte englische Art, und genau diese Skizzierung bezweckt McGuinness in seinem Debütroman. Und das tut er auf so sprachgewandte Weise, voller metaphorischer Feinkost, dass man McGuinness sofort als den kosmopolitischen Literaturprofessor identifiziert, der er letztlich ja ist. Doch diese Information tut dem Lesegenuss keinerlei Abbruch, im Gegenteil: Was McGuinness zu Papier gebracht hat, ist schlichtweg eines der schönsten – gleichsam fiktiven – Dokumente der Zeitgeschichte des „alten“ Rumäniens.

Mit dem Titel des Buches, „Die Abschaffung des Zufalls“, ist zwar ein griffiger und durchaus passender Aufhänger gewählt worden, der Originaltitel „The last hundred days“ lässt aber auf eine nüchternere Weise durchblicken, worum es hier geht. McGuinness schreibt seine eigene historische Komplettierung vom Ende einer Diktatur in einem Staat, welcher an bestenfalls nordkoreanisch zu nennenden Zuständen krankt. Aber er tut das nicht vorwurfs-, sondern liebevoll, mit einem Hang zum Surrealismus. Wie (über-)lebt man als Protagonist in einer krassen Mangelwirtschaft, in der Zigarettenschachteln die einzige gängige Währung sind? Der Hauptfigur wird das durch seinen Mentor und bald auch väterlichen Freund Dr. Leo O’Heix gnadenlos gelehrt. O’Heix ist als Bukarester Schwarzmarktikone selbst einer der Protagonisten in der Schattenwelt einer Stadt, deren permanente Veränderung er wie ein Besessener in Landkarten porträtiert, um sie vor dem Verschwinden zu bewahren. Und niemand steht so stellvertretend für die Ambivalenz dieser Stadt wie O’Heix – der einzige Mensch, „der über dieselben Dinge sowohl ernst als auch sarkastisch reden konnte, und zwar gleichzeitig“.

Und genauso rutscht der Protagonist mitten hinein in die politischen Verstrickungen, wobei er mehr und mehr ein Teil des komplexen Systems wird. Er bleibt nicht nur Zeuge der allgegenwärtigen Korruption, sondern verfängt sich in deren Labyrinth. Als er sich dann in die Tochter eines ranghohen Diplomaten verliebt, die ein zwielichtiges Spiel mit ihm spielt, wagt der Autor den Absprung – in einen comichaft inszenierten Politthriller, ein geradezu wahnwitziger Hybrid aus rasanter Unterhaltung und historischem Background. Er lässt seinen Hauptcharakter durch ein „stalinistisches Legoland“ stolpern, durch „Phantasien aus Baugerüsten und Beton“, und lässt ihn sich während des Versuches, Zusammenhänge zu erkennen, als ein Spielball immer tiefer in diesem diffusen Netz verfangen. Das Ganze liest sich dabei aber so rasant, dass man nicht anders kann, als sich für diesen Moloch leidenschaftlich zu begeistern.

Einen wesentlichen Anteil an der Sprachgewalt dieses Romans hat jedoch die großartige sprachliche Übersetzung, was unbedingt explizit erwähnt werden muss. Übersetzer Henning Ahrens erweist sich als ein hervorragender Jongleur der deutschen Sprache, welcher der Erzählung eine geradezu lyrische Liquidität verleiht, sodass man zu keinem Zeitpunkt an eine Übersetzung denken mag – da gehen winzige Ungereimtheiten einfach unter. So Gott will, soll uns dieses Zweiergespann möglichst bald einen neuen Roman bescheren.

Titelbild

Patrick McGuinness: Die Abschaffung des Zufalls. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Hennings Ahrens.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012.
445 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055803

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